Lob an WDR5 Radio Philo für einige der letzten Sendungen. Jürgen Wiebicke und Gundi Große (Redaktion) hatten interessante Gäste: Susan Neiman ging es um die infantile Gesellschaft, die die gebürtige Amerikanerin in Deutschland beobachtet. Und mit Heinz Bude ging es um unsere Angstgesellschaft. Beiden Beobachtungen ist gemein: die Verweigerung von Freiheit und Verantwortung.
Infantile Gesellschaft
Gesprächsabend der Philosophin Susan Neiman mit Freunden (alle in ihren 60er Jahren).
Sie: "Ich schreibe ein Buch über das Erwachsenwerden."
Freund: "Oh, was für ein blödes Thema. "
Anderer Freund: "In der Tat. Mein Held war immer Peter Pan."
Nicht Erwachsen zu werden, galt damals vielen Alt-68ern als Form des Widerstands. Doch eigentlich -so Neiman- ist Erwachsenwerden, d. h. das mutige Bekenntnis zur Freiheit und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen (sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu führen), die beste Voraussetzung für Widerstand. Aber natürlich nur, wenn man wirklich Verantwortung für einen Widerstand übernehmen will.
Kant erfand nicht nur das Wort von der selbstverschuldeten Unmündigkeit, sondern sagte auch: "Die Gesellschaft will keine mündigen Bürger haben. Es ist viel einfacher infantilisierte Menschen zu manipulieren und ruhig zu stellen als selbst denkende Bürger."
Neiman:
"Unsere Gesellschaften unterstützen diese Infantilisierung: Ich finde es schon bezeichnend, dass die mächtigste Politikerin Europas 'Mutti' genannt wird. .. Ihre Botschaft ist ständig eine Beschwichtigung: Macht ruhig weiter, Mütti kümmert sich. Da braucht Ihr keine Alpträume über Griechenland zu haben."
Wer Kinder großgezogen habe, wisse wie man Kinder ablenken muss, um sie von ihrem Willen zu lösen. Wir als Erwachsene seien ebenfalls fast permanent abgelenkt. Auch ohne "soziale" Medien. Wir bekommen die Botschaft, Erwachsenwerden heiße möglichst viel Spielzeuge zu sammeln. Nur bezeichnen wir diese Spielzeuge verschleiernd als "Werkzeuge". Bei deren Benutzung haben wir immer mehr unwichtige Entscheidungen zu treffen (Konfigurationen) und Aufmerksamkeiten zu zollen (Benachrichtungen, Updates..). Dabei vergessen wir, dass die wichtigsten Entscheidungen für unser Leben -anders als das Smartphone- nicht in unseren Händen liegen. Aber wer darauf hinweise, werde für kindisch gehalten. Das heißt, die die uns für eigene Zwecke infantilisieren wollen, werfen uns Infantlität vor, wenn wir uns dagegen wehren. (Das erinnert mich an die Prophezeiung von Ignazio Silone, nach der der neue Faschismus in der Gestalt des Antifaschismus daher kommen werde.)
Erwachsensein ist die Fähigkeit mit einem Auge zu sehen wie sie ist, und mit dem anderen Auge zu sehen, wie sie sein sollte. Das ist kein Zustand des Stillstandes. Die meisten Menschen geben leider irgendwann eine der Blickweisen auf.
Susan Neiman
Für einen weiteren Irrtum halte sie die Erwartung, erwachsen zu werden heiße mehr Sicherheit im Leben zu bekommen. Sie fordert vielmehr: "Bereitet junge Leute auf die Unsicherheiten im Leben vor."
Kritik:
Die Beobachtung der Infantilisierung teile ich. Ich meine, sie kommt auch oft in Form von Verdummungsangriffen daher. Verdummungsangriff entweder als Versuch uns zu verdummen. Oder unsere Dummheit bereits voraussetzend. Angriffe geführt aus der Haltung eines sich für klüger haltenden und sich uns verdummen zu dürfen anmaßenden Aggressors. Beispiel: Die Begründung der Einführung der PKW-Maut im Bundestag.
Gesellschaft der Angst
Heinz Bude meint:
In den westlichen Gesellschaften bietet Herkunft keine Sicherheit mehr. Es haben die an Sicherheit verloren, deren Herkunft Garant für Wohlstand und Ansehen war.
An die Stelle der Herkunft seien Leistung und persönliche Verbindungen getreten. Niemand steht mehr für einen ein, außer man selbst. (Denn auch Verbindungen funktionieren nur nach Geben und Nehmen.)
Keine Generation habe deshalb je so gute Chancen gehabt wie die heute 20jährigen. Ihnen schreibt er eine "demographische Rendite" in Form vieler offener Stellen am Arbeitsmarkt zu. Dennoch sei diese Generation eher pessimistisch - Stichwort "Generation Praktikum".
Bude erklärt sich diesen Widerspruch mit Verlustangst: "Ja es geht uns gut, aber wie lange noch?" Die Deutschen "trauen dem Braten nicht." Ergebnis: Verbitterung, Verdruss, Verzagtheit.
Bude fragt rhetorisch:
Was ist ein gelungenes Leben, was ist mein Maßstab dafür, ob ich mich verlaufen habe oder auf der richtigen Spur bin? Antwort: Diesen Maßstab gibt es nicht. Es wird sich immer erst im Nachhinein erweisen, ob das Leben gut war.
(Ich erinnere i. d. Zshg. an die Sendung von Ende Dez. 2013 "Was ist das gute Leben?"). Dennoch empfinden wir nach Bude eine Schuldigkeit gegenüber den Möglichkeiten des Lebens. Wer die -im Nachhinein- falschen Entscheidungen treffe, empfinde eine Schuld gegen sich selbst. Nicht nur, wenn ihm die falsche Entscheidung geschadet habe, sondern bereits, wenn er nicht den optimalen Nutzen für sich gezogen habe.
Bude:
Die Freiheit lässt uns zittern und wir suchen -nach Sartre- Zuflucht bei den anderen. Und empfinden ihnen gegenüber wiederum Zweifel, in der Angst, sie könnten sich von uns abwenden..
Dilemma: Es geht uns gut, aber es nagt der Zweifel darin getäuscht zu werden. Haben wir keine Urteilskraft mehr, wie es uns gerade geht, weil man uns widersprüchliche Signale (oder Schweigen) sendet?
Kritik:
Die Angstbeherrschtheit vieler Zeitgenossen lässt sich m. E. nicht leugnen. So viel Konformität und Bereitschaft zur Fremdsteuerung war selten. Der Mainstream sowieso. Aber auch die Guten sind in der Defensive. Sie sind ernüchtert und stellen keine hohen Erwartungen mehr. Ich selbst habe immer noch den Dot.com Crash in den Knochen, wenn ich tief in mich reinhöre. Dafür aber auch mehr Bewusstsein für das was gut ist. Ich erlebe Verstörtheit bei Mächtigeren, die mich über Angst steuern wollen und dabei ihre Wirkungslosigkeit erleben.
Was mich allerdings tief verstört: Wenn ich Menschen sagen höre, dass andere sie definieren sollen. "Was ich gut kann, muss mein Chef mir sagen." Oder (Neurentner): "Die plötzliche Freiheit, das war das schlimmste." Die alles Gute um sie herum verpassen, weil sie aus der Defensive nicht mehr herauskommen. Oder, das Gute sehen, aber nur auf dem Display ihres Smartphones - mit Selfies beschäftigt. Den Nachweis einer Teilhabe sichernd. Aber was für eine Teilhabe ist das..?
Streit und Kritik sind ja selbst im politischen Raum verpönt. Ein kräftiges Wort auf Twitter und man verliert zehn Follower. Nein, der gute Ton ist die dezente Andeutung, die dem Leser den Schluss nahe legt. Die Artikulierung eigener Interessen, die zur Aufdeckung von Interessenskonflikten führen könnte, ist tabu. Derzeit zu besichtigen in der sog. "Alternative" für Deutschland.
Am Ende stimme ich zu: Es gibt ein Regiment, eine Machtausübung, die nur andeutet, die Gehorsam erwartet und jede sich erhebende Stimme über sich selbst erschrecken lässt, weil sie die Stille erschüttert. Uns gewahr werden lässt, wie still es ist. Die Menschen sollen sich in ihre Kinderzimmer, auf die Bauteppiche und die Appstores verziehen. Die einzige von oben vergönnte Freude soll Erleichterung sein, dass die letzte Angst vielleicht doch unbegründet war.
Nicht gelitten zu haben, soll genug Freude sein.
"Grübeln Sie nicht zu viel."
Jürgen Wiebicke