Nirgendwo werde ich mir meiner Wessiherkunft so bewusst wie in Bonn. Nirgendwo sonst kann ich als Wessi so offen aussprechen, dass das Grün hier früher grüner war. Zehn Jahre nach unserem Umzug nach Berlin bekam ich plötzlich Lust auf einen Besuch in Bonn.
Ermöglicht ein Besuch im Kennedy Space Center für kurze Zeit wieder Zugriff auf kindliche Astronautenträume und Disneyworld die Illusion, dass das Leben ein Comic ist, so erlaubt mir Bonn eine Rückkehr in meine reale Welt von gestern. Würde Bonn Eintrittsgeld verlangen, ich würde es zahlen, wenn ich vom Tor aus das alte Bundeskanzleramt sehen könnte.
Es gibt Leute, die leben diesen Traum jeden Tag. Im alten Bundeskanzleramt, unweit vom Rheinufer, residiert die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ. Deren Berater jetsetten durch die Welt, um Dirk Niebel regelmäßig über den Sieg des Kapitalismus in Entwicklungsländern zu berichten.
In der
WAZ lasen wir, dass der Bundestagsbeschluss für den Umzug nach Berlin gerade Jubiläum hatte. Bonn drohte ein dramatischer Strukturwandel - im schlimmsten Fall so wie dem Ruhrgebiet. Doch anders als in der rauhen Marktwirtschaft, wo Arbeiter in den sauren Apfel beißen, wenn ihre Manager Fehlentscheidungen treffen, fädelten es die Beamten in Bonn schlauer ein. Entlang der nach früheren Bundeskanzlern benannten Allee reiht sich ein (neues) Bundesamt ans nächste. Viele Ämter wurden im Rahmen von Liberalisierungen, Privatisierungen und technischem Fortschritt nötig. Da die Themen inzwischen aber fürs erste erschöpft sind, gründet die Bundesregierung inzwischen Ämter, die die Arbeiten von anderen Ämtern "koordinieren", wie z.B. das Nationale Cyber-Abwehrzentrum. Im alten Bundeshaus "Langer Eugen" dagegen residiert die UN. Man sieht, wie in Berlin Mitte, viele Berater mit Rollkoffern. Bonn hat nicht nur überlebt, es geht ihm sehr gut. 6,6% Arbeitslosigkeit, das ist für NRW ein guter Wert. In Berlin würde das als Vollbeschäftigung durchgehen. Bonn ist, wie Berlin, eine durch und durch subventionierte Stadt.
Die beiden DAX Konzerne Post und Telekom, die hier ihre Hauptverwaltung haben, profitieren von den kurzen Wegen zur Politik. Als diese beiden Konzerne noch Bundespost hießen, da gab es bi denen noch Service mit preussischer Disziplin und die Vorstände betrachteten ihre Institution und den Staat nicht als Beute.
Womit wir zurück auf unserem Nostalgietrip wären. An der Station "Bundeshaus" legt die
Filia Rheni an. Gehen wir an Bord und fahren mit.
Blick vom Rhein ans Ufer. Alles nett hier. Trotz des unruhigen Wetters da draußen, ist es an Deck ruhig. Fast wie bei einer Ballonfahrt. Man hört sogar die Vögel am Ufer zwitschern.
Mit NRW, Hessen, Baden-Württemberg und später Bayern hatte die alte Bundesrepublik florierende Kraftzentren. Da waren etliche Branchen noch stark reglementiert. Fernsehmoderatoren warben ehrenamtlich für gute Zwecke und lebten in Deutschland, aber nicht unbedingt in Schlössern am Rheinufer, denn das gaben die GEZ-Gebühren damals noch nicht her..
Apropos Talkshows: Im
Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, einer der wenigen guten Ideen, die Helmut Kohl hatte, kann man eine Wahlkampfrunde mit nämlichem damaligen Kanzlerkandidaten, dem Titelverteidiger Helmut Schmidt, Franz-Josef Strauß und Hans-Dietrich Genscher auf Video sehen. Damals konnte man sich die Elefantenrunde noch antun. Es ging um den Kampf der Systeme mit Worten. Seit zehn Jahren erklärt uns keiner mehr was, weil die Arbeit inzwischen von Lobbyisten gemacht und formuliert wird, und die vortragenden PolitikerInnen nicht mehr unbedingt verstehen, was sie da vom Blatt ablesen.
Als die Fraktionen noch im
Langen Eugen saßen, wäre keine von ihnen auf die Idee gekommen, uns akademische Hochstapler wie Guttenberg, Koch-Mehrin etc. sowie schnöselige Milchbubis und -mädels wie Bahr, Rösler und Frau Schröder unterzujubeln. Und unpolitische Abtaucher wie Wulff hätten sie nicht in die Villa Hammerschmidt gewählt.
Unterm Strich also beklage ich als Wessi den Verlust der Intellektualität in der Politik. Berlin ist leider nicht die Hauptstadt der Denktanker geworden.
Mit diesen Eindrücken ging es von Bonn nach Gelsenkirchen-Erle. Dort gibt es in der Cranger Straße (dem
Erler Kudamm) die
Dokumentationsstelle "Gelsenkirchen im Nationalsozialismus". Diese Stätte geht auf die Initiative einer gewissen, früheren SPD-Stadtverordneten zurück. Die besondere Relevanz solcher lokalen Ausstellungen liegt ja darin, dass sie die Geschehnisse vor Ort dokumentieren. Und sie nennt Namen, die mancher Besucher der Ausstellung gut kannte. Vor allem aber erleichtert sie das Nachfühlen der Katastrophe aus Sicht der normalen Leute in ihrem Alltag vor Ort.
Die Ausstellung zeigt recherchierte Fotos, Zeitungsartikel und Gegenstände aus der NS-Zeit. Der Höhepunkt, und Auslöser für ihre Errichtung, war die Wiederentdeckung des an die Wand des NS-Büroleiters gemalten Wahlprogramms der Nazipartei. Die Zeitungsüberschriften kommen einem nicht mehr so fremd vor. Und wenn ich Begriffe wie "Schieber" und "Wucherer" an der Wand lese, dann ist mir klar, wie anfällig wir bald wieder sein könnten.
Symbol für die Geistesverachtung der Nazis und ihrer Wähler: Die Bücherverbrennung. Vorsicht. Die Geringschätzung von Geist, Bildung, Originalität und Eigensinn ist auch heute wieder auf dem Vormarsch.
Nicht nur die zynischen Reaktionen und Gegenangriffe der ertappten HochstaplerInnen mit falschem Doktortitel belegen das. Sie machen uns wahlweise mit schiefem Lächeln oder schlechter Laune klar, dass sie im Ausweis akademischer Leistungen ausschließlich die karrierefördernde Funktion für nützlich und erstrebenswert erachten. Die Kanzlerin machte uns klar, dass sie es für kein schwerwiegendes Vergehen halte, wenn sich einer den akademischen Titel erschleicht oder erkauft. Wo für Merkel die Grenzen intellektueller Aufrichtigkeit liegen, das weiß nur sie. Die Mitglieder und Wähler ihrer Partei schmerzt das. Aber auch sonst haben wir viel politischen Geist durch "politische Prozesse" ersetzt. Und wo immer weniger Handelnde die immer komplizierteren und "alternativloseren" Apparate und Zusammenhänge durchblicken, da brechen sich alte Kräfte Bahn. Undemokratische, zentralistische, autoritäre Kräfte. So wie in Kafkas Prozess.
Ich bin überhaupt der Meinung: Wer wissen will, was kommen könnte, und woran man es erkennt, sollte weniger über Energie und Volkswirtschaft lesen, sondern die Wichtigen der Weltliteratur. Und wer die Krise als Chance am Roulettetisch nutzen will, lese die Familienchronik der Quandts. Aber Vorsicht: Wir halten uns für aufgeklärt und informiert. Und ich glaube, wir machen nur selten gravierende Denkfehler, wenn wir unsere Schlüsse ziehen. Aber wir treffen oft falsche Annahmen, aus denen wir dann logische aber nicht zutreffende Schlüsse ziehen.
Sicher, der Besuch im Museum macht klar: Wir waren schon oft in existenziellen Situationen und haben es gemanagt. Aber auch: der letzte Deutsche, der Gläubigerbanken zugunsten verschuldeter Staaten kräftig zur Ader lassen wollte, war Alfred Herrhausen.