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Montag, 4. Juli 2011

Wenn Informationsverarbeitung die Mimik still legt

Wenn ein Körperteil überproportional gefordert wird, versorgt der Kreislauf es überproportional mit Blut. Wissen wir. U.a. fällt nach einem schweren Essen das Denken schwer, weil das Blut in den Verdauungstrakt gelenkt wird.

Doch nicht nur mit dem Blut muss gehaushaltet werden. Auch mit den Synapsen im Gehirn. Manchen Menschen kann man buchstäblich beim Denken zugucken. Bei Informationsüberfluss zeigen sie keine Regungen mehr, weil ihre Synapsen auf Hochtouren laufen. Manche starren mit offenem Mund auf den Tisch. Manche wirken cool - eine Fehldeutung. Manche fangen an, Mantras zu sprechen. Gewaltbereite Jugendliche auf der Straße kann man minutenlang stilllegen mit der Frage, was sie gestern Abend gemacht haben oder wo sie diese tolle Jacke gekauft haben (habe ich so erlebt). Sie schinden Zeit mit gelernten Mantras "Ey, Alder, willst Du mich verar***en.?", um Zeit fürs Denken und die Bewertung der Situation zu gewinnen.

Als George W. Bush vor zehn Jahren vom Anschlag auf das WTC erfuhr, zeigte auch er keine Regung. Das deuteten viele Menschen als Beleg dafür, er sei eingeweiht gewese, habe in dem Moment das Erwartete erfahren. Ich halte das nicht mehr für wahrscheinlich. Ich glaube, dass Bush's Synapsen mit der Informationsverarbeitung überfordert waren.

Donnerstag, 4. November 2010

Geistessterben



Mulmige Gefühle lösen bei mir die Nachrichten aus den USA aus. Die Verzweiflung greift um sich. Die Wähler wissen nicht mehr, wen sie wählen sollen. Und die Regierung und auch die Notenbank wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Nur die Wallstreet weiß, was sie will, und sie bekommt es auch: Mehr, mehr, mehr.

Wessen Volkswirtschaft im wesentlichen "irreal" ist, wer sich dreißig Jahre lang der Deindustrialisierung hingegeben hat, wer seine Volkswirtschaft von Derivatehändlern und -erfindern steuern lässt, der kommt anscheinend nicht auf die Idee, es beim Wiederaufbau mal mit Substanz zu versuchen.

Die USA und England sind -beginnend mit Reagan und Thatcher- virtualisiert worden. Wer seine Industrie abbaut, weil er glaubt, woanders lasse sich eh billiger produzieren, und wer ernsthaft glaubte, man könne seinen materiellen Wohlstand nicht auf Wertschöpfung sondern auf Wetten auf Wertschöpfungen bauen, dem fehlt inzwischen das Vorstellungsvermögen und der gesunde Menschenverstand für das Funktionieren einer gesunden Wirtschaft. Der ist darauf angewiesen, es mit Finanztransaktionen zu versuchen. Schon wieder werden Milliarden Dollars gedruckt um Staatsschulden "zurückzukaufen".

Früher hätte ich noch an die innere Stärke Amerikas geglaubt und gesagt: Die ziehen sich selbst wieder hoch. Aber mein Eindruck ist, und unser Trip nach New York hat dies bestätigt: Sie haben keine Inspiration mehr. Sie sind ausgelaugt, hoffen von Tag zu Tag. Zu müde, ein S21 an der Wallstreet zu organisieren. Zu uninspiriert für eine neue technische Revolution. Es sieht aus wie das Ergebnis des "Geistessterbens", das Pierangelo Maset in den westlichen Ländern diagnostiziert hat: Keine Inhalte mehr, nur noch Formen: Tabellen, Charts, Folien. Kein Urteilsvermögen mehr, nur noch Ratings. Keine Bildung mehr, nur noch Qualifikation. Keine Wertschöpfung mehr, nur noch Wetten darauf. Das "Value" in Shareholder Value hat sich selbst ad absurdum geführt. Sie stellen gerade fest, dass man Geld nicht essen kann...

Freitag, 8. Oktober 2010

Green New York


Deja vu: Ankündigung von Radrennen in der Stadt

Nachdem sie zweimal von Intensivtätern an den Rand des Abgrunds gedrängt wurden, wenden sich die New Yorker anscheinend wieder den wahren Dingen des Lebens zu. Auf unseren Spaziergängen durch die Lower Eastside, Greenwich Village und Chelsea, aber auch im Financial District fiel uns auf: Die Leute sind langsamer geworden. Bewusster. Die Deli-Shops werben mit Qualität und lokaler Herkunft.


Home made: Cup Cake Konditor

Das Personal ist nicht mehr aufgesetzt freundlich, sondern freundlich. Es scheinen andere Leute das Geschäft zu machen, als noch vor fünf Jahren. Im Hotel Houston werden wir von der asiatischen Empfangsdame begrüßt und erfahren, dass das Frühstück inklusive ist. Und das Frühstück ist gut. Die anderen Gäste witzig und sehr freundlich.

In den Villagebewohnern erkennen wir Gutmenschen. Aber angenehmeren Typs als in Berlin. Nicht ideologisch aufgeladen, nicht vorrangig darauf bedacht, moralisch immer recht zu haben und im Recht zu sein, wenn er die Regeln zu seinen Gunsten zurecht biegt. Z.B. im Straßenverkehr. Nein, es gibt auch den Typus "guter Mensch", der Qualität will, der im Gleichgewicht sein will und der sich von Hypes, Ängsten und anderen Manipulationen nicht mehr beirren lassen will. Dem Familie wichtig ist, der aber auch die Manipulationen seiner eigenen Familie austherapiert hat - und sei es nur durch die Identifikation mit den Romanfiguren eines Jonathan Franzen..

Wir machen unseren ersten Spaziergang Richtung Manhattanbridge und erfahren, dass die Stadt am Wochenende wegen eines Radrennens gesperrt wird. Das kennen wir aus Berlin, allerdings ideologischer. Wir wollen mit dem Bus fahren, zählen die 1-Dollar-Scheine ab. Der Busfahrer klärt uns auf, dass wir in Münzen bezahlen müssen. Haben wir nicht. "Habt Ihr nicht? Then go ahead.." Er nimmt uns so mit und wünscht uns beim Aussteigen noch ein "Enjoy New York!". Mit der U-Bahn durchqueren wir den East River nach Brooklyn. Ich erinnere mich an die Story des Ruhrbarons Arnold Voss über Gentrification in Williamsburg. Wir wollen den Brooklyn Bridge Park sehen und die neu gestalteten Piers. Und werden nicht enttäuscht. Der Uferweg unter der Brücke führt ins Grüne. Einen Park, den ein junges Paar für seine Hochzeitszeremonie nutzt (was wir gut verstehen können ;-). Die Atmosphäre ist hier einzigartig. Die Oktobersonne strahlt, der Verkehr hoch oben auf der Brooklyn Bridge rauscht vorbei. Dieser Blick auf Manhattan unter einem strahlend blauen Himmel ist unersättlich. Wir gehen weiter zu den Piers. Hier gibt es ein Brücken-Cafe und der Parkweg führt vom Pier 1 zum Ufer. Dort entlang bis zum Ende und zurück durch den hügeligen Park. Von dort schaut man über grüne Wiese und durch herbstliche Bäume rüber nach Manhattan. Ein Bauschild sagt, dass man hier im nächsten Jahr auch mit Kanus Richtung East River ablegen kann.




Der neue grüne Deal: die New Yorker Brückentechnologie

Auf den Straßen gibt es einen Trend zu Hybridantrieben. Die neue Taxigeneration, Modell Ford Escape, hat durchweg Hybridantrieb. Einige Linienbusse auch. Und sogar Stretchlimos tragen das Schild an ihren Flanken. Der Lexus 400 Hybrid ist eines der häufigsten "Manhattan Cars".


What if God was one of us? Just the driver of the Hybrid bus..

Dieses New York ist das Gegenteil von 1999. Damals: Business und Technologie Hype. Angst etwas zu verpassen. Die Börse fährt ohne einen ab, wenn man zu spät kommt. Atemlosigkeit. Die Hand am Zentralrechner der New Yorker Börse. Heute: Ruhig, grün, auf dem Ökotrip. Zum ersten mal konnte ich mir realistisch vorstellen, dort zu leben und zu arbeiten.

Zurück in Manhatten, an der Westside, gibt es eine still gelegte Hochbahnlinie aus den 30er Jahren.(Eine Güterzuglinie, hoch gebaut, damit sie den Straßenverkehr nicht gefährdete). In Berlin und Dortmund lässt man so was einfach verrotten und nennt es dann Gleismeer oder Vintage. Die New Yorker Regierung und die "Freunde der Highline" hingegen veranstalteten einen Ideenwettbewerb und eröffneten im Sommer 2009 den ersten gestalteten Abschnitt. (Mehr Infos: TheHighline.org)




Last not least: The very special Jefferson Market Garden in Greenwich Village

Fotos: Frontmotor

Mittwoch, 6. Oktober 2010

"No standing any time": Die Wallstreetboys

Wir waren ein paar Tage in New York. Es hat sich einiges getan seit dem letzten Besuch 2005. Und erst recht, wenn man zehn Jahre zurück blickt. Ich werde in den kommenden Tagen darüber berichten. Anfangen will ich mit den Bänkern. Dann habe ich sie hinter mir..

Vor zehn Jahren waren sie die Herren des Universums. Heute wirken sie nur noch peinlich: Die Banker. Der Hass auf sie hat sich gelegt, die New Yorker belächeln und bemitleiden sie inzwischen eher. Wer vom Leben nicht mehr erwartet, als seine Gier in einer Spielhölle auszuleben, hat auch nicht mehr verdient.

Das intellektuelle New York ist von der grünen Welle erfasst. Überall liest man von "organic", "hybrid" oder "home made". Man achtet wieder auf Qualität und hat die Blasen satt. Zieht man durch die Lower East Side, Greenwich Village oder Chellsea, sieht die aufs aufrichtige Gutsein bedachten Menschen und laufen einem dann Anzug tragende Banker über den Weg, wird es unübersehbar: Dieses Investmentzeitalter war wie ein Big Mac. Nichts dran, nichts dahinter und man hat bald wieder Hunger. Sie wirken um so peinlicher, je überheblicher sie daher kommen. Überheblichkeit ist es etwas, was in New York inzwischen völlig verpönt ist. Man ist freundlich, hört zu, stellt Fragen. Nur die Bänker nicht.

Man hat die Banker rausgehauen, wie die notorisch prügelnden Typen aus den Problemfamilien. Sie haben sich nicht bedankt. Sie haben bis jetzt ihre Schuld nicht bekannt. Kaum geht es ihnen besser, fangen sie schon wieder von vorne an. Die einzige Geste, die sie für ihre Umwelt übrig haben ist der Zaun, den sie um die Börse gezogen haben. Man kommt nicht mehr an sie ran. Sogar die U-Bahnzugänge haben sie dicht gemacht. Sie haben Schiss, weil sie vielleicht doch ein schlechtes Gewissen haben?

Gut passt auch das rote Verkehrsschild, das auf sie zeigt und sagt: NO STANDING ANY TIME:




Fotos: Frontmotor

Sonntag, 5. September 2010

New Yorker

In New York freedom looks like too many choices
In New York I found a friend to drown out the other voices
Voices on the cell phone
Voices from home
Voices of the hard sell
Voices down the stairwell
In New York, just got a place in New York
U2, "New York"





Mittwoch, 1. September 2010

Starts spreading the news..


Foto: Gary Gelb, Greenwich Village, Manhattan, Oktober 2000

Am Dienstag, den 11. September 2001, nahm ich an einem Wochenseminar der IBM in Stuttgart teil. Meine Frau und ich hatten bereits bei British Airways Tickets nach New York gekauft. Wir wollten Anfang Oktober fliegen. Gegen 15h verließ ich den Seminarraum für eine kurze Pause. Ich hörte meine Handymailbox ab. Oh, unsere Freundin aus Essen fragte ziemlich aufgeregt, ob wir noch in Deutschland seien oder schon "drüben". Wenn ich das höre, solle ich bitte schnell zurückrufen. Danach meine Frau, im Hintergrund aufgeregte Stimmen. Ich rief sie zurück und sie schilderte mir, was passiert war. Sie sagte, man verdächtige bin Laden als Drahtzieher. Ich stellte ihn mir als den Teufel persönlich vor.

Mit diesem Wissen war ich zu diesem Zeitpunkt einer der wenigen im IBM Gebäude. So ging ich zurück in den Seminarraum und überlegte, ob ich die Nachricht einfach laut verkünden sollte. Sie schien mir zu groß, als dass sie Zeit bis nach dem Seminarende hätte. Andererseits war es ein interessantes Gefühl, zu wissen, dass eine Nachricht gleich den Raum verändern würde. Es lief ein Video auf dem Beamer, auf dem Lou Gerstner sagte: "There are three types of people in business: Those who watch things happen, people to whom things happen and those who let things happen." Damit traf er den Nagel auf den Kopf. Ironischer ging es gar nicht.

Dann stieg der Drang in mir, die Nachricht herauszulassen. Aber ich wusste gar nicht, was ich zuerst sagen sollte. Terror, Flugzeuge, New York.

Wir starteten ein Thinkpad und surften auf SPIEGEL Online. Wir sahen rauchende Twintowers. Im Seminar hatten wir einen Kollegen von der IBM UK. Der rief in seiner Hauptverwaltung in England an und erfuhr, dass sie den Luftraum gesperrt hätten. Er sagte nervös: "Das ist ein ganz gefährliches Zeichen. Jetzt ist es wirklich ernst."

Wir brachen das Seminar ab um auf unsere Hotelzimmer zu gehen. Wir verabredeten uns für das Abendessen. Als ich aufs Zimmer kam und n-tv einschaltete, stürzte einer der Türme ein. Ich sah den Turm, den wir ein Jahr zuvor noch betreten hatten, der auf etlichen Fotos zu sehen war, einstürzen. In dem Moment stürzte auch in mir etwas ein. Ich hatte die USA seit dem Amtsantritt Bill Clintons gemocht. War zwei mal in New York gewesen. Der Internet- und Gründerboom, die Börsenhausse. New York wie eine kalte Dusche, die einen aufweckt und nach Luft japsen lässt. Das Zentrum der Welt. Perspektiven, die nie enden. Und jetzt das: Eine Heimsuchung aus der Steinzeit.

Mir ging es wie allen, ich konnte die Augen nicht mehr vom Fernseher nehmen, und telefonierte parallel mit meiner Frau. Nach Abendessen war mir überhaupt nicht zumute, aber da war auch das Bedürfnis, mit den Kollegen zusammenzurücken. Noch einen Tag zurvor hatte ich mit meinem Chef über Rudolf Scharpings Fotos aus dem Swimmingpool gewitzelt.

Am nächsten Tag hieß es bei IBM: Flugverbot. Also Heimfahrt am Donnerstag mit dem Zug? Es ging ein paar mal hin und her. Dann durften wir doch fliegen. Es war das leerste Flugzeug, mit dem ich je geflogen bin. Höchstens 10 bis 20 Passagiere. Alle schweigsam, alle unwohl, alle ängstlich. Der Terror verlieh der Phantasie Flügel.

Später erinnerte ich mich an einen Gedanken vom Februar 2001. Wir waren gerade nach Berlin gezogen und wohnten in einem möblierten Appartement in Charlottenburg. Schwer beschäftigt mit dem Umzug und meinem Projektstart bekam ich Tagesnachrichten immer nur abends in den Tagestehemen mit. Da war eine Meldung von einem chinesischen Spionageflugzeug, dass die US Armee abgeschossen hatte. Oder es war umgekehrt. Jedenfalls wurde der frisch gebackene Präsident mit harschen Worten in Richtung China zitiert. Irgendeine Eingebung ließ mich zu meiner Frau sagen: "Den werden wir noch in olivgrüner Uniform erleben. Der ist mit nicht geheuer."