Samstag, 10. April 2010

Über das selbstbestimmte Leben (Teil 1)

Das Ideal des Liberalen ist das freie Individuum. Die Freiheit ermöglicht das selbstbestimmte Leben. Fremdbestimmt dagegen ist, wer tatsächlichen Zwängen Einfluss auf sein Leben einräumen muss. Insofern ist jeder Mensch auch fremdbestimmt. Und hier liegt der erste Irrtum der orthodoxen Liberalen. Zu glauben, dass man autonom leben könne. Das gilt nur für die oberen Zehntausend, die unter Liberalismus nur die Legalisierung ihrer Steuerhinterziehungen und sonstige Entsolidarisierungen verstehen. Selbstbestimmt ist man nach meiner Vorstellung als Einkommensabhängiger bereits, wenn man die meiste Zeit auf eigene Ziele und Zwecke hinarbeiten kann.

Den Feudalismus haben wir formell abgeschafft, deshalb fühlen wir uns alle selbstbestimmt. Wir fühlen uns auch dazu aufgerufen, uns selbst zu verwirklichen. Doch wenn man Leute, die vorgeben, genau dies zu tun, nach ihren Motiven befragt, kommen oft Vermeidungsmotive zum Vorschein. Das Loswerden irgendwelcher Zwänge oder Risiken.

Doch wie real (oder wie ich bei den Philosophen gelernt habe: "aktual", also der Fall) sind diese Zwänge und Risiken?

Subjektiv fremdbestimmt ist doch auch, wer irrtümlich meint, Sachzwängen Einfluss auf sein Leben einräumen zu müssen.

Und merkwürdigerweise ist es gerade der Neoliberalismus, der die Mittelschicht von einem selbstbestimmten Leben abhält. Indem er negative Motive für mehr Liberalismus transportiert: Das Abschütteln der Steuerlast, die selbstständige Vorsorge fürs Alter, die "Fitness" für den Arbeitsmarkt. Der deutsche Liberalismus agiert mit negativen Motiven. Und das macht ihn so unfrei.

Zu den eingebildeten Sachzwängen gehören genau diese Ängste, die uns über die Medien vermittelt werden. Früher schürten Zeitungen die Kriegsangst. Heutzutage schüren sie permanent Angst vor Klimawandel, Arbeitslosigkeit und Altersarmut. Alle drei halte ich für fingierte Ängste. Sie entpuppen sich als Scheinriesen, die bei der Annäherung kleiner werden.

Angst #1: Der Klimawandel
Ich habe nur wenig einem klimaverträglichen Leben bewusst geopfert, aber es mir jedes mal innerlich gut geschrieben, wenn ich mich "klimafreundlich" verhalten habe. Z.B. bin ich das gesamte Studium lang mit der S-Bahn zur Uni gefahren. Später fuhr ich drei Jahre lang mit dem Regionalexpress von Dortmund nach Essen. Bis ich nach Essen zog und zu Fuß ins Büro ging. Mann, dachte und erzählte es Freunden, mein CO2-Konto ist dick im Plus. Und selbst heute produziere ich mit 6,5t nur halb so viel CO2 wie der durchschnittliche Deutsche.
Wir stellten uns aber nie die einfachsten Fragen: Z.B.: ist dies der erste Klimawandel in der Erdgeschichte? Ist er von uns ausgelöst? Wem wird er schaden? Was können wir tun, damit er weniger Schaden anrichtet? Worauf müssen wir uns vorbereiten? Wurde nie diskutiert. Vielmehr wurde die Angst vor dem Klimawandel kultiviert und sich jeder Spaß abgewöhnt, z.B. Autofahren und Fernreisen. Bis heute hören wir in den Nachrichten immer nur die Frage, wer künftig wieviel CO2 in die Luft blasen will. Aber noch nie haben wir erfahren, was das für uns konkret bedeuten wird. Absurde Diskussionen wie z.B. über moralisch gute und schlechte Benzinpreisüberhöhungen bleiben einfach so im Raum stehen. Werden von ein und demselben Politiker einerseits verteufelt und andererseits gut geheißen. So schizzophren ist das Regierungsviertel inzwischen.

Und jetzt lesen wir immer öfter, wie dieser Popanz allmählich relativiert, wenn nicht entzaubert wird. Egal, wie diese wissenschaftlichen Kontroversen noch ausgehen mögen. Eines halte ich für gewiss: Es wird anders kommen, mit anderer Ausprägung als wir denken. Es wird uns andere Prioritäten setzen. VIele unserer unreflektiert übernommenen Annahmen werden sich als falsch entpuppen.

Angst #2: Altersarmut
Immer klarer wird mir: Das gleiche gilt für das Thema kapitalgedeckte Altersvorsorge. Ich muss mir nur zwei Zahlen anschauen, um zu verstehen, dass ich einem riesengroßen Schwindel aufgesessen bin. Und dass das irgendjemandes Interesse dient. Diese beiden Zahlen sind: Meine bisher erworbenen Rentenansprüche. Und die Performance meiner Lebensversicherungen, die ich mal abgeschlossen habe. Es droht mir Gott sei Dank doch keine Altersarmut. Denn wenn das so wäre, würden meine LVen das nicht ändern können. Denn sie performen nicht. Ich bin einem Geschwätz von Schwindlern aufgesessen, die sich folgender Manipulationen bzw. Lügen bedienen:
- Sie "als Akademiker" werden ... blablabla einen "Lebensstandard"... Pustekuchen: Das war einmal. Akademiker werden im Niedriglohnland Deutschland genau so knapp gehalten wie früher die Facharbeiter.
- "Ihnen entsteht eine Rentenlücke". Und sie wollen doch im Alter keine "Abstriche" machen... Schließen Sie die Rentenlücke! - Ja klar, Lücken schließt der Deutsche ja gerne, denn er räumt gerne auf und sichert sich gerne gegen Risiken ab, damit er gut schlafen kann.
Die nahe liegende Frage, die nie einer gestellt hat, lautet: Wenn die Umlage finanzierte Rentenversicherung an der schwindenden Bevölkerung Hunger leiden wird, wird das nicht genau so für die Aktienmärkte gelten? Werden auf einem demographisch absteigenden Ast nicht immer mehr Akteure verkaufen als kaufen? Werden wir nicht, wenn es aufs Rentenalter zugeht, immer in fallende Kurse verkaufen müssen? Und was bedeutet es, dass der frühere Wirtschaftsweise Bert Rürup nach der Erfindung der gleichnamigen Rentenversicherung beim Finanzdienstleister AWD anheuerte und später mit dessen Gründer sogar ein neues Beratungsunternehmen gründete..?

Von den Herzinfarkten, die die Leute, die uns das alles andrehen, bei diesem System immer wieder auslösen, habe ich dabei noch gar nicht gesprochen.

Angst #3: Arbeitslosigkeit
Deutschland ist ein Niedriglohnland. Das sagte ich vor drei Jahren dem Manager eines Herstellers von Navigationssystemen beim Mittagessen auf einer Tagung: "Warum verlagern Sie ihre Entwicklung nicht von den USA nach Deutschland? Wir sind schließlich ein Niedriglohnland mit bestens qualifizierten Ingenieuren und Informatikern." Das fasste dieser deutschgebürtige Amerikaner als Provokation auf. Heute kann er im WSJ lesen, dass ich recht hatte.
Staat und Arbeitgeber haben sich geeinigt: Wir entlasten die Unternehmen und den Staat, indem wir die Reallöhne brutto stagnieren und netto absenken. Und damit alle mitspielen, bauen wir einen neuen Bullemann namens Hartz IV auf. Ende vom Lied: Wir haben im vergangenen Jahrzehnt eine galoppierende Inflation hingenommen (Benzin, Lebensmittel, Restaurants), aber die Erhöhung unserer Einkaufspreise nicht an unsere Kunden -die Arbeitgeber - weiter gereicht. Nee, wir waren schon froh, nicht arbeitslos zu werden.
Die meisten Arbeitsplätze in Deutschland wurden im vergangenen Jahrzehnt nicht durch Verlagerung in Billiglohnländer zerstört - auch wenn der frühere FDP Politiker und DIHK Vorsitzende Braun, den deutschen Mittelständlern dazu immer wieder geraten hat. Nein, die meisten Arbeitsplätze werden in Deutschland inzwischen durch schlechtes Management (schlecht=kurzsichtig, produktfern, kundenfern, mitarbeiterfern, zahlengläubig, urteilsschwach, fantasielos, veantwortungslos) zerstört. Doch das führt bei denen überhaupt nicht zu Demut und neuer Bescheidenheit. Im Gegenteil. Die kämpfen vor Gerichten für die Auszahlungen ihrer Boni und Abfindungen.
Inzwischen droht man den abhängig Beschäftigten auch mit Google, als wäre dies ein neuer "lieber Gott", der alles sieht. Doch auch das ist eine übertriebene Angst. Man muss seine Außendarstellung nicht permanent so frisieren, dass sie sich auch unbedingt für das nächste Vorstellungsgespräch eignet, vor dem der Personaler einen googlen wird. Das findet nicht statt, ich habe das gerade selbst mehrfach ausprobiert.
Im Gegenteil: Ich werde heutzutage eher stutzig, wenn ich über einen mir vorgestellten zukünftigen Manager im Internet überhaupt nichts finde. (Dazu später mehr in einem gesonderten Beitrag.) Dieser Spruch von Google: Wenn Sie von etwas nicht wollen, dass man es über Sie herausfindet, sollten Sie es vielleicht gar nicht erst tun, dieser Satz war ein Traumtor für alle Personalabteilungen. Daran halten muss man sich aber nicht, denn es ist ein Scheinriese.

Meine Devise lautet fortan: Zurück zum normalen, instinktgesteuerten Leben. Weniger Medienkonsum, jedenfalls was die kommerziellen Medien angeht. Denn die bedienen nicht meinen Informationshunger und Wissensdurst, sondern vor allem meine Ängste. Das Internet wird uns als Aufklärung verkauft, doch zumindest sein kommerzieller Teil ist das Gegenteil davon. Wer viel Zeitung liest und im Internet surft, wird nicht informierter, aufgeklärter und emanzipierter. Sondern im Gegenteil. Gibt sich mehrmals täglich eine Dosis Angst, die ihn zu einem fremdbestimmten Menschen macht.

Fazit: Abhängig Beschäftigte haben keinen Grund für übertriebene Bescheidenheit. Sie müssen sich vielmehr neu emanzipieren, von den sorgsam gepflegten Ängsten. Müssen ihr Leben wieder in die Gegenwart verlagern.

Es ist deshalb nahe liegend, dass uns nicht der neoliberale Zeitgeist, sondern die Emanzipation von diesem einem selbstbestimmten Leben wieder näher bringt.

PS: Einige werden Einwänden, dass es doch eher ein linkes Projekt ist, Ängste zu schüren, für deren Regelung dann ein Apparat geschaffen werden muss, der einen in noch tiefere Unmündigkeit führt. Dem stimme ich nur im zweiten Teil zu. Die Ängste selbst entstehen aber nicht aus einem solidarischen Menschenbild, sondern aus der liberalen Vorstellung des jeder gegen jeden.

1 Kommentar:

  1. angst ist im Englischen übrigens ein deutsches Lehn- und Modewort...

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