Erst Handke (Danke, Nobelpreiskommittee!), dann Andric (Danke, David!) und nun Jörg Berni (Danke, Burkhard Müller-Ullrich!). All sie haben mir eröffnet, mit welchen (wessen?) Augen ich bisher auf Karten von Europa geschaut habe. Ja, ich schaute von Westen. Und ja, es gab für mich nur West- und Osteuropa. Und ich war blind für Mitteleuropa. Und ich verstand nie den Balkan, und wollte es doch. Ich wusste nur, die ihn zu Auschwitz erklären, werfen Nebelbomben.
Wenn ich mit westeuropäischem Hochmut behauptete, Europa sei inzwischen meine Heimat, wusste ich zur Hälfte gar nicht, worüber ich da redete. Schon, ich war in Polen. Österreich, Kroatien. Aber nichts wusste ich über den Kulturraum Mitteleuropa. Weil ich die Wendezeit im Westen erlebt habe. Und für uns wendete sich gar nichts. Nicht wir schüttelten Besatzer und ihre Statthalter ab. Nicht wir waren in Misstrauen gegen jeden aufgewachsen. Nicht uns hatte man künstlich klein gehalten, damit die Kleinen im Geiste sich groß und sicher fühlen konnten. Nicht wir hatten etwas riskiert - ob Flucht oder Protest.
Oder noch weiter zurück: Nicht wir hatten die Osmanen erlitten und abgeschüttelt. Da können höchstens die Spanier mitreden. Wie es ist, von desinteressierten, genusssüchtigen Faulenzern regiert zu werden. Und konsterniert zu sehen, wie eigene Nachbarn fraternisieren. Oder wie Arte es neulich - quasi als Telekolleg- betitelte: Der durch Toleranz (für Parasiten) erblühende multikulturelle Raum Andalusien.
Als Enkel der Wirtschaftswunderdeutschen wurde ich in Unwissenheit über unser kulturelles Erbe gehalten. Ich kannte es nicht, mich an uns selbst zu erfreuen. Ich kannte Feste, aber waren die Kirchenfeste nicht nur Vorwand für materielle Eroberungen? Schon das Schlesiertreffen der Großeltern und ihrer Geschwister lief bei uns unter peinlicher Folklore. Nichts wussten wir, wollten wir wissen über Schlesien. Und wie sollen da Generationen zueinander finden, wenn das Erlebte unsagbar ist oder so gilt?
Schon der Westmaterialismus war eine Entfremdung. Ja, wir waren frei. Frei in der Berufswahl, Partnerwahl, Parteienwahl und im Supermarkt. Und ich werte das nicht ab. Aber man verkümmert, wenn das alles bleibt.
Die Freude an der heimischen Landschaft, den eigenen Gewohnheiten, Bräuchen - all dem, was einem in jungen Jahren selbstverständliche Kulisse für die eigenen Wünschen und Ambitionen ist, kam erst als anfing zu wackeln. Als jemand danach griff. Da wurden mir plötzlich meine Bräuche klar.
Und so sage ich, dass ich nicht unter Breschnews und Ceaucescus aufgewachsen bin. Bei uns war es subtiler. Wir wurden seelisch entführt und zu kulturellen Waisen gemacht. Wir wurden des Rechtes auf innere Heimat beraubt. Und die Täter waren keine fremden Besatzer sondern es waren die Nachbarn, Lehrer, Politikamibitionierten, Journalisten. All die Weltenweiter, die ihren Hass auf die Taten ihrer Väter und Mütter an ihren Landsleuten rächen wollten. Die Joschkas, Sigmars, Heikos. Die Prüfeltrachten ihrer Naziväter haben sie an uns -zu kulturellen Intensivtätern mutiert - abreagiert.
Vor Jahren sah ich eine DVD "Deutschland bevor die Bomben fielen". Ungläubig schaute ich auf deutsche Städte soweit östlich, wie ich noch nie war. Was ich heute als Ostgrenze meiner europäischen Erkundung bezeichne hätte früher mitten in meinem Land gelegen.
Nein, kein Vorwurf an unsere östlichen Nachbarn. Wie Jörg Bernig im Nebensatz "An der Allerwelstecke" schrieb, Stalin behielt Ostpolen, weil der Hitler-Stalin-Pakt für ihn weiter gelten durfte. Pasta sunt servanda und Wehe den Besiegten. Die vier Siegermächte sorgten dafür, dass auch das vergewaltigte Polen zu den Verlierern zählte.
In der zweiten Halbzeit meines Lebens ist das starke Bedürfnis nach Korrekturen erwacht. Ich meide Leute, die über sich und ihr Land nur mit gesenktem Kopf sprechen können. Die ihr Joch nicht abschütteln sondern es für einen Ausweis von Überlegenheit halten. Die sich verleugnen. Die zu nichts stehen, was sie ausmacht. Nicht sie selbst (wenn sie wissen, wer das ist!) nicht ihre Familie, Eltern ihr Land.
Nur wer sein eigenes Haus in Ordnung hat, kann sich um andere kümmern. Wer seine Sehnsucht sublimiert, seine Identität in der Unterwerfung sucht, und dabei gesehen werden will um sich überlegen zu fühlen, denn halte ich für ehrlos (falls er weiß, was das meint) und verachte ich. Und rate ihm dringend zu einer Therapie.