Ich habe "Sorge dich nicht, lebe!" nie gelesen, lebe aber inzwischen nach diesem Titel. Bevor etwas Neues Einlass in mein Bewusstsein begehrt, frage ich es: Was hast du mit mir zu tun?
Und zack, werden die meisten Nachrichten und Neuigkeiten herausgefiltert. Das entlastet Prozessor und Speicher, Bewusstsein und Gedächtnis. Anderer Leute Probleme belegen bei mir keine Ressourcen mehr. Ich entlerne sogar Empathie, also die Empfindung von Schmerz, wenn ich ihn bei anderen sehe. Denn Empathie quält nur, wenn man doch nichts helfen kann.
Ich verliere an Breite und gewinne an Tiefe. Mal Jahre lang ein Projekt weiterentwickeln. Einfach am Ball bleiben und sehen, wie es wächst. Und wie ich selber wachse. Kollegen kommen und gehen, ich bleibe. Und immer wenn ich dachte, so - jetzt bin ich auf dem Höhepunkt, oder sogar über den Berg, dann kam danach ein noch größerer Hügel von dem aus ich noch mehr sah.
Ja, man klebt an alten Gewohnheiten wie tagesschau, heute journal im Fernsehen und den notorischen Webseiten mit Neuigkeiten und auch den Medien, auf denen man Austausch und Feedback bekommt. Aber es geht auch ohne. Dazu braucht es vielleicht einen Ruck, wie ihn uns die Telekom vor einigen Wochen verabreichte: Abends fiel in Kreuzberg/Mitte ein ganzer Netzbezirk aus. Wir waren nicht nur telefonisch nicht erreichbar, wir hatten auch keine Emails und kein Internet. Und sogar das Hintergrundrauschen für unser Onlinegeplapper fiel aus: das Fernsehen. Denn bei uns kommt alles über "das Netz".
Stattdessen lauschten wir vor der Terrassentür einem aufziehenden Gewitter und beobachteten die zunehmende Dunkelheit. Als wären wir im Urlaub, wo wir ja stets feststellen, ohne was man alles leben kann und wie viel stattdessen schon da ist. Gut, anfangs schalteten wir das Radio ein, weil wir annahmen, der Grund für den Ausfall sei ein Blitzeinschlag bei der Telekom. Wir lauerten also auf Nachrichten mit Bedeutung für uns. Aber stattdessen kam nur das übliche. Und deshalb schalteten wir es irgendwann auch aus. Da hörten wir nur noch, wie der Regen in Bäume und Hecken rauschte.
Mein Religionslehrer in der fünften Klasse begann seinen Unterricht immer mit den Worten "Sammelt euch." Dann mussten wir aufstehen, die Hände falten und auf die Stille warten. Heute verstehe ich, was er mit "sammeln" meinte: die verstreute Aufmerksamkeit, die überall herumspringt, nur nie bei uns selber ist.
Vertiefe dich auf dich und deine ureigenen Angelegenheiten und du wirst überrascht, wie viel da ist. Auf der Arbeit meide ich Großraumbüros, auch das Büro, in dem mein Schreibtisch steht. Denn es reicht ein Kollege, der meint, die anderen mit seinen Wehwehchen bequatschen zu müssen. Ich nutze freie Besprechungsräume oder belege welche, wenn ich mit jemanden etwas besprechen muss. Ich bin mit meinem Projekt beschäftigt, mit der Suche von leeren Räumen oder auf den Weg zu ihnen. Ich schaue nicht mehr ins Internet oder bin neugierig auf noch mehr neue Emails.
Und wenn es Konflikte gibt, bin ich heute fähig, sie sofort anzusprechen und damit auszuräumen. Auch Konflikte belegen bei mir heute deutlich weniger Ressourcen, weil ich sie konzentriert angehe.
Ich frage mich seitdem, warum ich jetzt erst darauf gekommen bin. Denn ich gewinne ungemein an Stärke, Konzentration und brauche für Arbeiten erheblich weniger Zeit. Die Erregermaschine arbeitet unablässig daran, uns von uns selbst abzulenken, und uns damit zu schwächen. Die Medien verstehen sich nicht mehr als Aufklärer, sie wollen uns nur noch erregen. Wie Nörgler, denen nicht an der Lösung von Problemen und Störungen gelegen ist, sondern an der Aufmerksamkeit, die sie von anderen auf sich lenken zwecks Bestätigung ihres Daseins.
Seitdem ich so arbeite und lebe erlebe ich immer häufiger den Flow und ein fideles Körpergefühl. Ich bin in meiner Mitte. Ich glaube, das ist es wo ich all die Jahre, als ich glaubte mich selbständig machen zu wollen, hinwollte.