Sonntag, 23. Oktober 2011

Was uns die Nazizeit über digitale Bürgerrechte lehren sollte


Hollerithkarte im Auschwitzmuseum

Götz Aly ("Die restlose Erfassung") und Edwin Black ("IBM und der Holocaust") haben vor geraumer Zeit analysiert, wie staatlich erhobene Daten entscheidende Voraussetzungen für brutale Durchgriffe faschistischer Regime schaffen. Noch bevor die Nazis in Sichtweite kamen, hatte der deutsche Staat Volkszählungen durchgeführt und mit Hollerith Lochkartenmaschinen ausgewertet. Wer in Deutschland wohnte, war maschinell erfasst worden. Man konnte sowohl gezielt seine Adresse ausfindig machen. Man konnte aber auch Auswertungen über vorgegebene Merkmale fahren und sich Adresslisten ausgeben lassen. Diese Daten waren zu rein administrativen, friedlichen Zwecken erhoben worden.

Die Nazis konnten sie später aber auch gebrauchen. Allerdings fehlte ihnen noch das wichtige Merkmal "Religionszugehörigkeit". Deshalb durchforsteten sie Kirchen- und Synagogenbücher und erfassten nicht nur aktuelle Konfessionen, sondern verschnitten auch die Daten von Ahnen. Nur mit den Hollerithmaschinen, die inzwischen IBM gehörten und mit zahlreichen Patenten geschützt waren, ließen sich Ahnenreihen mit Religionsmerkmalen verschneiden und die Rassentheorien von "Voll-", "Halb-", "Viertel-" usw. "Juden" mit Namen von Einwohnern unterfüttern. Die Auswertungen über die kombinierten Datenbestände lieferten die Adresslisten für die Deportationen.

Welche Erkenntnisse ergeben sich daraus für unsere heutige Zeit?

- Datensparsamkeit ist oberstes Gebot. Man kann nie wissen, in wessen Hände erhobene Daten einmal fallen werden.
- Ihre volle Macht entfalten Datenbestände erst, wenn sie mit anderen zusammengeführt werden, um den ursprünglichen Erhebungszweck zu erweitern.
- Die Industrie war und ist Erfüllungsgehilfe und wird sich immer darauf berufen "den vollen Anwendungszweck nicht gewusst zu haben". (IBM zählte nach dem Krieg irrtümlich nicht zu den belasteten Unternehmen.)

Wir erinnern uns an einen Innenminister Schäuble, der Mautdaten zunächst zu rein verkehrswirtschaftlichen Zwecken erheben wollte. Später ergänzte er: "Erhobene Daten, die bei der Aufklärung von Verbrechen helfen können, dürfen wir den Ermittlungsbehörden nicht vorenthalten." Ein Foul sondergleichen, aber auch ein Fingerzeig, wie autoritär das Verständnis der Konservativen von digitalen Bürgerrechten ist.

Noch größer der Skandal Friedrich/DigiTask beim Bundestrojaner. Hier wird verdeckt eine Technik eingesetzt, die nicht nur der Erfassung, sondern auch der Produktion beliebiger Befunde dienlich sein kann.

Dazu kommen Datenbestände bei Telekommunikationsnetzbetreibern, die deutschen Behörden zur Verfügung zu stellen sind. Und Flug- und Kreditkarten, die Fluglinienbetreiber von ihren Kunden erheben und an us-amerikanische Behörden ausliefern.

Eine Erkenntnis von Geoinformatikern lautet: Fast alle Daten in der Geschäftswelt haben irgendeinen Geobezug. Das dürfte in der Forensik erst recht gelten.

Wir sind längst so weit, dass man uns auswerten kann und schnell herausfinden kann, wo man uns treffen kann, wenn man will. Wir lassen das derzeit zu, weil wir auf den wichtigen Zweck (Anti-Terror) und den gewissenhaften Umgang mit den Daten vertrauen. Aber wissen wir, von wem wir morgen regiert werden?

Dazu kommt die zunehmende Maschinenhörigkeit. Wo Führungskräfte IT einsetzen, da glauben sie in der Regel, an der Intelligenz und Qualifikation der Mitarbeiter sparen zu können. Das führt laut Bruce Schneier in den USA schon lange zu Effekten, bei denen Bürger in Gesprächen mit behördlichen Callcenteragenten in Sackgassen geraten, weil das Gesprächsskript der Agenten bestimmte Konstellationen nicht vorsieht. Und selber Denken ist solchen Angestellten meist verboten.

Das friedliche Bedrohungsszenario besteht also aus einer vollständigen Erfassung und Überwachung und einem Auswerteapparat, der sich nie irren darf, weil er für Reklamationen schlicht nicht ansprechbar sein wird ("Ich habe Sie nicht verstanden. Bitte wählen Sie.."). Das unfriedliche besteht aus einem autoritärem Regime, dass seinen Wählern versprochen hat, es dem neuesten Sündenbock mal so richtig heimzuzahlen und dafür auf Datenbestände von Schily und Schäuble zurückgreifen kann.

In den USA gehört IBM (und nicht die Hersteller von klassischer Militärausrüstung) zu den am meisten vom Homeland Security Projekt profitierenden Unternehmen.

Die demokratischen Parteien müssen für solche Zusammenhänge dringend Verständnis entwickeln und Positionen beziehen. Derzeit traue ich Frau Leutheuser-Schnarrenberger hier noch am ehesten Durchblick und guten Willen zu. Der CDU/CSU überhaupt nicht. Die Piratenpartei weiß hoffentlich um die Brisanz von staatlichen Datenerhebungen.

1 Kommentar:

  1. Anonym24.10.11

    Leutheusser-Schnarrenberger? Wer ihre letzte Bundestagsrede (zum Trojaner) gehört hat, wird wissen: die Dame tut so, als würde sie bellen, aber beißen wird sie am Ende nicht.

    Sprich: von der haben wir als abgeschnorchelte Bürger außer ein bißchen wohlfeiler Spiegelfechterei nichts zu erwarten, wenn's eng wird.

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