Mittwoch, 4. Mai 2011

Berlin ist nicht dynamisch, sondern gefragt

Berlin wird teurer. D.h. in immer mehr Bezirken steigen die Immobilienpreise und Mieten. Makler berichten von europäischen Käufern, die tlw. ungesehen kaufen. Weil sie die Hyperinflation fürchten und weil Berlin immer noch vergleichsweise billig ist: "Eine Wohnung im Wedding kostet soviel wie ein Autostellplatz in guter Lage in Moskau. Sogar Kiew erlebt gerade einen Hype."

Auch die Lebenshaltungskosten steigen. Wasser und Strom sind schon teurer. Aber vor allem der Öffentliche Nahverkehr, Gastronomie und Lebensmittel werden laufend teurer. Eine Ursache dafür ist der gewaltig gewachsene Tourismus und seine Nachfrage. 20 Mio Übernachtungen verkaufen die Berliner Hotels inzwischen pro Jahr.

Da ensteht ein gewaltiges Trugbild. Man könnte meinen, Berlin sei im Aufschwung. Die SPD macht Wahlkampf mit 100.000 neuen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Sogar das Wort "Industrie" fiel voriges Jahr auf einer Ideenkonferenz der Arbeiterpartei. Aber das sind Tropfen auf heiße Pflastersteine. Am Werke ist nur Geld, das von außen in die Stadt getragen wird. Ein interessantes Gegenmodell zur produzierenden Exportwirtschaft: Berlin exportiert nicht viel, importiert dafür aber Menschen, die Geld ausgeben - so wie Disneyland.

Berlin erfreut sich keiner besonderen wirtschaftlichen Dynamik sondern ist schlicht und einfach gefragt. Und das ist nachteilig für die, die hier wohnen und Geld verdienen müssen. Unsere Gehälter steigen nämlich nicht in dem Maße, wie Mieten und Preise. Wer hier ein Leben führt, wie es anderswo als "normal" gilt, für den interessiert sich die Politik nämlich nicht. Die SPD hofiert allen voran ÖffDie's und Pensionäre, die wochentags nachmittags Zeit für Parteiveranstaltungen haben und in Wahlprogramm und Newslettern wimmelt es von nichtssagenden Bekenntnissen zu nachrangigen Themen. Sie nennt das kiezig "soziale Stadt". (Die Grünen nennen es noch unverbindlicher: "Eine Stadt für Alle"). Wer glaubt, dass sich in der Hauptstadt die Denktanks der deutschen Politik tummeln, die politisch Denkrichtungen entwickeln, Deutungen oder gar Antworten auf die Welt im Wandel geben, Künstler inspirieren, wird hart eines besseren belehrt. Hier wimmelt es von Politikberatern und Lobbyisten die sich auf unpolitische und überforderte Mandatsträger stürzen. Akademische Freiberufler, Anwälten und Ärzte, deren Praxen schlecht laufen. Die gehen -letzter Versuch, noch Karriere zu machen- in die Politik und geben sich die Schlammschlachten um Listenplätze.

Zum guten Ton in Wahlprogrammen gehört reichlich Toleranz: Z.B. für Leute, die sich Parks "aneignen" um zu grillen und Müllberge im Grünen zu hinterlassen. "Wo soll ich grillen, wenn ich es hier nicht mehr darf?!" fragte neulich einer in die RBB Kamera. Unter Privatisierung des Politischen bzw. Öffentlichen versteht man hier immer mehr, sein Wohnzimmer in Parks und U-Bahnen auszulagern - mit allen Gewohnheiten. Neulich wurde in Kreuzberg jemand OHNE Bierflasche in der Öffentlichkeit gesichtet. Es war eine Mutprobe.. (Dank an Werner für den Hinweis). Am 1. Mai stiegen weiße Schwaden aus dem Tiergarten: Es waren hunderte Grills im Einsatz. Es ist inzwischen normal, dass Leute ihr Frühstück oder Mittagessen in der U-Bahn einnehmen. Im ICE ist es normal, sich mit Rollkoffer und Kaffebecher in die Gänge zu quetschen, während man mit dem zwischen Schulter und Kinn eingeklemmten Smartphone telefoniert. Mit all so was wird man einfach belästigt.

Berlin ist nicht jugendlich, sondern infantil. Hat keine Schnauze mehr, sondern quengelt. Weiß mit seinem Leben wenig anzufangen und erhebt die einfallslose Beliebigkeit zur Kreativität. Ist nicht rau, sondern weich - oder kriminell.

Die SPD ist hier einfach zu lange am Ruder. Sie hat keine Ideen mehr. Wowereits Politik war es lange, obwohl selbst Westberliner, die alten Symbole Westberlins einzureißen. Die Stillegung von Bahnhof Zoo und Flughafen Tempelhof waren nur die prominentesten. Und als Nachnutzung zu Tempelhof fällt ihnen dann nur ein "Wiesenmeer" ein..

Wer ein normales Leben führt, erfährt viele Widerstände. Die Minderheit z.B. die einem Beruf nachgeht, kann mal zusehen, wie sie ins Büro, ins Werk oder zum Kunden kommt. Man wird behindert zu Lande, zu Wasser, zu Schiene und in der Luft sowieso. Als Autofahrer braucht man eine grüne Umweltplakette von der Zulassungsstelle, einen Parkausweis vom Bezirksamt, einen Wachmann, der aufpasst, dass das Auto nachts nicht abgefackelt wird und wenn man sein Auto tagsüber benutzen will, wird man nur ausgebremst. Wer nach Stillegung des Bahnhofs Zoo z.B. in die Nähe des neuen Hauptbahnhofs nach Mitte zog, kommt jetzt zwar zum Zug, weiß aber nicht, wo er sein Auto parken soll. Wer S-Bahn oder Bus benutzen will, wartet im Winter vergeblich. Das alles kümmert den Senat nicht, oder er ist sogar Verursacher der Misstände.

Und auch Wirtschaftspolitik betreibt der Senat nicht wirklich. Anfangs warb man anderen Städten noch die eine oder andere Konzernhauptverwaltung ab. Inzwischen ist aber selbst das zu mühselig. Berlin fremdelt mit Unternehmern und Unternehmen. Dabei ist SPD-Landesvorsitzender Müller ein gelernter Kaufmann und selbständiger Drucker. Er könnte als "Mister Mittelstand" auftreten und sich für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins stark machen. Aber man hat bei ihm leider oft den Eindruck eines Rufers in der Wüste. Er ruft eigentlich nicht einmal mehr sondern reiht sich ein in die soziale Stadt. Das Stichwort Industrialisierung (das eigentlich Re-Industrialisierung heißen müsste) verdanken wir sicher ihm.

Diese Woche gab es wieder eine Enttäuschung: Siemens hat sich für München als Standort für seine neue Sparte "Infrastruktur" entschieden. London wird auch noch etwas abbekommen. Von Wowereit und Wirtschaftssenator Wolf (Linke) hörte man zwar Töne in der Art, die Ansiedlung in Berlin sei eigentlich selbstverständlich. Aber um etwas kämpfen tun die nicht gerne. Die sind eher Spezialisten im Thema Förderprogramme.

Optisch tut sich derzeit viel in Berlin. Der Kudamm feiert sein 125 Jähriges. Am Zoo entsteht ein neues Hochhaus. Am Bahnhof Zoo sollen künftig wieder nicht nur Spielautomaten Kundschaft in den Bahnhof locken, sondern Reisende.

Aber da, wo es nach Arbeit riecht, wo die Potenziale sind, z.B. im Technologiepark Adlershof im Südosten, da sieht man Wolf nur selten. Nicht einmal vernünftige S-Bahn Anschlüsse gibt es dort.

Wenn schon also Industrie und Forschung Stiefkinder dieses Senates sind, wie steht es dann mit dem, für das viele Berlin halten: Ein kreatives Zentrum? Auch von Mode und Musik hört man nur selten, leider. Viele sind gut, haben sich einen Namen gemacht und halten sich über Wasser. Aber es wachsen keine kräftigen Äste.

Alles in allem ist Berlin ein Phänomen. Es weckt anscheinend viele Erwartungen, Phantasien und Sehnsüchte. Aber es erfüllt sie nicht. Nach zehn Jahren in Berlin ist es für mich schwer geworden mir vorzustellen, was Touristen in Berlin sehen. Ich habe es vor zwanzig Jahren mal als größer als mich selbst empfunden. Etwas, was schier unüberschaubar, undurchdringbar ist, in dem es 1.000 Chancen gibt und viele Bewegungen und Kräfte, die es voran bringen, die einen fordern. Aber da ist nichts mehr..

1 Kommentar:

  1. Schöner Artikel.. bin zur Zeit sehr viel in HH und erkenne immer mehr von dem was Berlin einmal war, aber mit viel mehr Power.. HH wird immer mehr zur Option für mich.

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