Auf Fachkonferenzen über Anforderungsmanagement, Architekturmanagement oder agile Methoden irritiert mich seit längerem diese dargestellte Verspieltheit der Protagonisten.
Bei denen das Projektleben eine Art Comic aus lächelnden, einfachen Akteuren ist. Die Kunden bzw. Anwender als "Reisende" ansehen, unterwegs auf dem Globus wie Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer.
Die Botschaft (die bei mir ankommt): Probleme kennen wir nicht. Wenn du welche kennst, muss das an dir liegen. Mach dich locker.
Ich habe diese Lockerheit erst einmal in eigenen Projekten erlebt. Und dieses Projekt war auch prompt erfolgreich. Wir konnten locker sein, weil unsere Klientel nach mehreren Misserfolgen so verzweifelt war, dass sie sich hüteten, uns unter Druck zu setzen. Diese Freiheit nutzten wir, um das System so nützlich wie möglich zu machen.
Und Erfolg ist eine Aufwärtsspirale. Hast du Erfolg und gibt man dir Freiheit, aktiviert das immer mehr Ressourcen in dir und erweitert deinen Blick. Du verstehst immer mehr und das Produkt wird immer besser. So will man arbeiten.
Aber nach meiner Überzeugung gibt es noch weitere wichtige Erfolgsfaktoren. Und dazu gehört das gute Zusammenspiel von Anforderungsmanager (Product Owner) und Architekt. Unsichere (alte und junge) Akteure neigen bei Unsicherheit zu Rückzug und Distanzierung. Anstatt "ans Netz" zu gehen, versteifen sie sich auf Grundlinienduelle und warten auf die Fehler des "Gegners". Aber so kommt das Projekt nie vernünftig in Gang.
Vielmehr müssen beide ihre Rollen und Aufgaben anerkennen und ihr Zusammenspiel verstehen. Das "Was?" (Anforderungen) und das "Wie?" (Architektur) müssen auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dabei müssen sie die Randbedingungen des anderen verstehen und in die Lage kommen, vernünftige Kompromisse zu schließen. Keiner sollte seinen Stakeholdern Versprechungen machen, die der andere nicht einhalten kann.
In der öffentlichen Verwaltung läuft dieses Spiel noch überhaupt nicht. Der Grund dafür ist -nach meiner Beobachtung und Erfahrung- das unterentwickelte Anforderungsmanagement. Aber auch populäre Missverständnisse von "Architektur".
IT ist in der Verwaltung gewachsen wie in jedem komplexeren Unternehmen: Dezentral. Jeder Bereich hat über die Jahre sein Ökosystem entwickelt. Fachbereiche haben bestellt und installiert oder gar selbst entwickelt. Die Begründung war stets: Keiner versteht uns. Und wenn, liefern sie zu langsam. - Das Ergebnis: Mit der Zeit gibt es für gleiche Aufgaben immer mehr verschiedene Systeme.
Und der CIO beschließt: Standardisierung!
Das Ziel: Aus 16 mach (maximal) 2 Lösungen.
Die Aufgabe: Finde heraus, welche 2 das Optimum für die 16 bilden.
Die Vorgabe: Mach es ohne Anforderungsmanagement.
Inzwischen kenne ich mehrere Projekte die für die gesamte Verwaltung (Bundesressorts, Länder, Kommunen) eine Lösung gestalten sollen und die in Frage kommenden Lösungen werden gleich mit vorgegeben. Und was immer mit vorgegeben wird: Du kannst keinen Standard durchsetzen oder beschließen - sondern du musst dir die Zustimmung von allen Beteiligten abholen.
Es kommt auch vor, dass dir der CIO gerade erst die Lösung vorgeschrieben hat. Und er wendet sich von dir ab und der Presse zu und verkündet, wann die Sache produktiv gesetzt werden wird. Und weil er so ehrgeizig ist, legt er noch eins drauf und verkündet einen Leistungsumfang, der über die gesetzlichen Anforderungen hinausgeht. Er wird vor der Presse von modernen Lösungen und agilen Methoden sprechen. Aber für die entscheidende Frage, was das System können muss, um die Aufgaben des Fachbereichs für die Erfüllung des Gesetzes umsetzen zu können, wird keine Zeit eingeräumt.
Und hinter den Kulissen werden sich Fürsten um ihre Einflussnahme kloppen und deine dringenden Entscheidungen bis in den roten Bereich rauszögern. Am Ende wird sich einer durchsetzen und die Verlierer nicht mitspielen.
Was hat das mit den lächelnden Comicfiguren auf deiner Konferenz zu tun? Was leistet der Comic anderes als ein Klima von Konformismus, in der alle so tun als wären sie frei und glücklich aber an ihrem Schreibtisch haben sie keine Ahnung, wie sie ihre Vorgaben umsetzen sollen? Sollst du die Konflikte und Widersprüche ansprechen, sobald du sie erkennst?
Ich war neulich in einer großen Runde, in der ein Staatssekretär ausdrücklich dazu aufforderte, mal "offen aus der Praxis" zu berichten, was wir in den Projekten so erleben. Und keiner traute sich. Doch, einer traute sich dann schon. Und das war ich. Ich benannte die Hindernisse der Hierarchie, die Fokussierung auf Vorschriften statt auf Ergebnisse. Die Unmöglichkeiten, moderne und bewährte Methoden umzusetzen mit Rollen, die sich nicht jede Entscheidung einmal im Quartal genehmigen lassen müssen.
Der StS. nickte und sagte, dass es so sein könne, dass Gesetzesänderungen dafür nötig seien - und das s auch das möglich sei. Ich war ihm schon dankbar, dass er auf meine Worte einging. Was mich aber irritierte war das völlige Desinteresse der großen Runde. Während und auch nach der Sitzung. In diesem Moment verstand ich, wie tief der Konformismus inzwischen sitzt. Und zwar selbst dann, wenn zu Non-Konformismus aufgerufen wird. Die Comicfiguren auf den Flipcharts sind am Ende freiwillige Konformisten. Sie bekennen sich nicht nur zu äußeren Zielen und "Werten". Inzwischen lebt der Konformismus in den tieferen Schichten der Psychologie - im Prinzip so, wie von Huxley in der "Schönen neuen Welt" beschrieben. Wer nicht lächelt, hat ein Problem. Und Probleme wollen wir auf der Bühne nicht sehen. Hinter den Kulissen aber und unterm Tisch tragen wir sie um so härter aus.
Sehr gut. Ich übermittle meine ausdrückliche Hochachtung davor, in der Runde aufgestanden zu sein und das Kind beim Namen genannt zu haben! So etwas kommt ganz selten vor! Die Reaktion ist aber die übliche, beschwichtigende. Und selbst wenn dann als Konsequenz etwas „von oben“ angeordnet wird, gehen derartige "revolutionäre" (!!) Ansätze spätestens auf dem Dienstweg verloren.
AntwortenLöschenEs gibt bei Behörden ja so herrlich viele Möglichkeiten, Sachen zu verzögern. Hinzu kommt noch, daß Projekte oft fast ewig dauern und die Besetzungen oft wechseln. Nicht zu vergessen ist, zumindest in manchen Behörden, auch die Personalbemesserei, über deren Einzelheiten ich mich hier nicht auslassen will/kann. Aber eines hat sie zur Folge: Daß nämlich die Arbeitszeit jedes Mitarbeiters (nicht im laufbahnrechtlichen Sinn gemeint) aufgeteilt wird, also etwa 20% für Verwaltungstätigkeiten im Referat, 30% für Projekt A und 50% für Projekt B. Nun ist etwa Projekt B ein wirklich wichtiges, strategisches - ihm müßten, um es voranzubringen, eigentlich praktisch 100% zugeordnet werden. Das findet aber nicht statt, denn es gibt keine gescheite Priorisierung, die über den grünen Tisch hinaus durchgehalten wird, und es gibt keine Task Forces, die mit Biß und dem Ziel einer schnellen Umsetzung an Projektaufgaben herangehen. Der Mitarbeiter laviert sich also irgendwie durch - mit absehbarem „suboptimalem“ Ergebnis.
Ich kenne aus dem Behördenumfeld Projekte, die locker ein Jahrzehnt "weiterentwickelt" wurden. Selbst das einvernehmlich beschlossene Credo, ein Projekt müsse nach zwei Jahren fertig sein oder zumindest einen abnehmbaren, klaren Meilenstein erfüllen, war in der Praxis nur selten durchzuhalten.
Comics kenne ich gut aus Präsentationen, wo überall diese unsäglichen Microsoft-Comics auftauchen, meist völlig überflüssig (und meist wäre es besser gewesen, auf die Formulierungen, Rechtschreibung und konsistente Inhalte zu achten). Das geht einher mit der gewollten Verkindlichung der Bevölkerung, wie hier im Projektumfeld beschrieben und sehr schön zu sehen an der Werbung. Aber das ist dann schon wieder ein anderes Thema.