Endlich! Die beste Zeit des Jahres erreicht. Die Zeit zwischen Christi Himmelfahrt und Pfingsten nehmen wir uns immer frei. Der Garten blüht, die Bundesliga geht in ihre Endphase und die Temperaturen übersteigen die Grillschwelle.
Ich liege im Garten auf der Liege und lese. Ich lese seit vorigem Sommer überhaupt wieder viel. Was mir das letzten Endes ermöglichte war die Rückkehr zum Papierbuch. Die elektronischen Bücher verführen immer dazu, ins Internet zu schauen und zack ist man raus. Mit einem Buch in der Hand passiert mir das nicht.
Es hatte sich zunächst einiges angesammelt und ich sortierte den Bücherstapel nach Genres. Ich hangelte mich von Uwe Tellkamps "Schlaf in den Uhren" zu Jonathan Franzens "Crossroads". Nach beiden hat man beeindruckende Einblicke in gesellschaftliche und politische Entwicklungen in Deutschland und den USA. Croassroads kann man gut zwischen Advent und Ostern lesen, denn so spannt sich dort der zeitliche Bogen. Tellkamp passte gut in den Sommer, denn u.a. beschreibt er hervorragend den (wettermäßig) deutschen Sommer am Ostseestrand.
Weil ich in der Vergangenheit bleiben wollte und mich die Parallelen unserer Zeit mit der vor 100 Jahren immer mehr interessieren las ich danach Florian Illies "1913 - Ein Jahrhundertsommer", dann "Im Rausch des Aufruhrs 1923" von Christian Bommarius und Harald Jänners "Höhenrausch - Das kurze Leben zwischen den Kriegen". Sie alle behandeln das Leben vor und zwischen den Kriegen aus der Sicht des Alltags der normalen Leute und der von Künstlern und Wissenschaftlern. Die Lektüre dieser drei Bücher macht schmerzhaft bewusst, welche Höhe unser Land einmal gehabt hat.
Und die Frage, wer uns eigentlich von unseren eigenen Stärken abgebracht hat, führte mich direkt zu Klaus von Dohnanyi's "Nationale Interessen". Ein Augenöffner für blinde Amerikagläubige so wie ich es war. Dohnanyi ist in einem Alter in dem man keine Bange mehr haben muss, die Wahrheit zu schreiben bzw. seine eigene Meinung kund zu tun. Allein das ist eine wohltuende Abwechslung zwischen all den angepassten Zeitungsartikeln über die Gewaltspirale in der Ukraine. Dohnanyi schloss sein Buch vor dem russischen Einmarsch ab und doch bringt er mit schlafwandlerischer Sicherheit passende Vergleiche zur Vorkriegszeit des 1. Weltkrieges bzw. seiner Anfangsphase.
Als Deutschland als Aufsteiger zu mächtig wurde sah England keine Chance mehr, es selbst aufhalten zu können. Sie gewannen den alten Verwandten, die USA, als Lieferanten von Waffen und Munition und als provozierend aufkreuzende Seemacht, die dem Handelsembargo gegen Deutschland half. Vergleiche zu unseren Sanktionen und Waffenlieferungen von heute sind nicht zufällig. Damals wie heute ging es darum, amerikanischen Einfluss auf Europa zu sichern und jeden zu stark wachsenden potenziellen Hegemon in die Schranken zu weisen. In der Provokation anderer den ersten Schuss zu tun haben die USA mehr als 100 Jahre Übung. Wenn man bedenkt, wie es die letzten beiden Male ausging, als die USA den Engländern halfen, eine neue Macht in Europa zu verhindern, kann einem Angst und Bange werden. Nicht nur, dass die Kriegsgefahr für uns so hoch ist wie seit 1945 nicht mehr. Es ist auch so, dass wir überhaupt nichts zu gewinnen haben. Einzige Gewinner bereits jetzt sind die USA, die Russland als unseren Gaslieferanten abgelöst haben. Und die Erweiterung der NATO auf Skandinavien.
Deutschland hat seine Gasleitung zu Russland verloren, Europa hat seine Sicherheitsarchitektur verloren, weil es den USA immer blind gefolgt ist, auch gegen eigene Interessen. Vor der Ukraine war es Syrien, wo die USA völkerrechtswidrig eine der Bürgerkriegsparteien unterstützen und uns dafür fast 1 Mio Flüchtlinge aufgebürdet hat - zur Schwächung unserer Volkswirtschaft.
Und seit 100 Jahren erzählen sie das gleiche Märchen: Dass es ihnen um "westliche Werte" gehe. Oder sogar um die Rettung des Planeten. Denn auf das russische Erdgas sollen wir auch verzichten, weil es schädlich für das Klima ist. Was aber schon für das amerikanische Flüssiggas komischerweise nicht gilt.
Dohnanyi schreibt hierzu, die USA hätten mit europäischen Werten so wenig gemein, dass sie theoretisch nicht einmal in die EU aufgenommen werden könnten. Genauso wenig wir die Ukraine. Wohl aber teilen die USA und die Ukraine den "Wert" der Korruption. Das schreibt nicht Dohnanyi, sondern ich. Hunter Biden weiß das schon lange. Und die EU Führung auch. Und die Nachrichten über Festnahmen der obersten Richter in der Ukraine wegen Korruption haben uns diese Woche noch einmal daran erinnert.
Auch wenn Dohnanyu Putin unterschätzt hat. Er hat Recht mit der Analyse, dass die EU hier vor dem Scherbenhaufen ihrer eigenen Unfähigkeit zur Vertretung eigener Interessen steht. Wir sind schon stolz und zufrieden, dass wir uns nicht mehr untereinander bekriegen. Die EU ist aber auch ein Konstrukt, das die Formulierung und Wahrnehmung eigener Interessen auf der Welt verhindert. Für England und die USA ist das nützlich. Für Deutschland nicht. Wir bezahlen viel und haben wenig davon. Inzwischen nicht einmal mehr unsere Sicherheit.
Wenn ich mit der Politik durch bin, werde ich mich der Zukunft zuwenden. Denn auf meinem Bücherstapel liegen auch noch zwei Science Fiction Romane. Und George Orwell hat uns gelehrt, wie schnell die wahr werden können...