Donnerstag, 5. April 2012

Typisch deutsch: Grass' Gegenklage als Entlastungsversuch

Die Debatte aber müsste darum geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein fünfundachtzigjähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann.
Frank Schirrmacher

Damit trifft Schirrmacher vermutlich ins Schwarze. Ich habe gestern hin und her überlegt, wie ich zu Grass' Gedicht stehe. Schließlich habe ich hier selbst Partei ergriffen und mich gegen einen Krieg gegen den Iran ausgesprochen. Aus ähnlichen Abwägungen heraus, wie Grass sie zu haben vorgibt. Aber ich gehe ihm nicht auf den Leim.

Schirrmacher erinnert uns an ein bestens bekanntes Verhaltensmuster bürgerlicher Kreise, wenn man sie, die sie gerne moralisch und mit "Anstand" argumentieren, wenn es gegen Minderheiten (in ihren Gedanken gerne auch: Minderwertigkeiten) und die da unten geht. Spricht man sie aber auf eigene Vergehen oder gar Schuld an und appelliert an ihre christlichen Werte von Reue und Buße, wehren sie ab und suchen Entlastung indem sie auf mindestens gleichwertige Taten ihrer "Ankläger" verweisen. Und von Vorbildcharakter, mit denen sie häufig genug ihre gesellschaftlichen Pivilegien rechtfertigen, wollen sie dann dreimal nichts wissen. Weil sie ihn nicht haben und nicht wollen.

Als mit dem früheren Postchef Zumwinkel exemplarisch aufgedeckt wurde, wie dreist manche Angehörige der Oberschicht sich ihren (Steuer-)Pflichten entziehen, da lenkten die sich angesprochen und mitbeschuldigt fühlenden die Kritikpfeile gleich mal auf "alle kleinen Sünderlein" ab. Das tun doch alle. Nein, es tun eben nicht alle! Die meisten tun es nicht. Aus Anstand! Sie tun es selbst dann nicht, wenn sie nicht Gefahr liefen erwischt zu werden. Weil sie ein Anstands- und Rechtsempfinden haben und sich nicht mit Schuld beladen und beschmutzt fühlen möchten.

Moralische Rechtfertigung der Mitläufer durch den Fingerzeig zurück auf die, die sie anklagen, um sich moralische Entlastung zu verschaffen. Sie sagen nicht: Ja, ich bin schuldig. Aber seht, ich war Mitläufer in einer verdorbenen Atmosphäre, die ich atmete. Sie halten die Beschuldigung und die Auseinandersetzung mit eigenen Taten schlicht nicht aus. Es macht sie aggressiv und sie behaupten frech: Ihr seid auch nicht besser. Und beginnen mit dem, was sie für Beweisführung halten. "Beweise", wo Reflexion, Erkenntnis, Reue und Verhaltensänderung angesagt wären.

Den letzten Versuch auf einem intellektuell verkleidetem Niveau unternahm ein gewisser Hohmann. Er wollte den Begriff Tätervolk für "die" Deutschen (wer redet denn so..?) widerlegen, indem er ihn für "die" Juden widerlegte und ihn dann für "die" Deutschen zurückgenommen wissen wollte. Er ging sogar bis zur Bereitschaft, den Volksbegriff aufzulösen, nur um für moralische Appelle und gesellschaftliche Verantwortung nicht mehr adressierbar zu sein. Indem er darauf hinwies, dass die russische Revolution ja ebenfalls Millionen Opfer auf dem Gewissen habe (Relativierung). Und die russischen Revolutionäre seien überwiegend Juden gewesen (Fingerzeig). Das hielt er für eine Beweisführung, die zur eigenen moralischen Entlastung führen müsse. Man fasste sich an den Kopf, als einige Halbgebildete sagten: Tatsächlich. "Die" waren ja genauso schlimm. Oder fast genau so schlimmm. Jedenfalls nicht unschuldig. Und haben deshalb zu schweigen? Saldobildung, um eine Schuld mit der anderen zu begleichen? (So haben auch Linke gegen die Vertriebenen argumentiert. Und das war genau so falsch wie jeder andere Saldo. Weil ein Saldo überhaupt nichts belegt und überhaupt nichts verarbeitet oder gar löst. Ein Opfer ist ein Opfer und als solches anzuerkennen. Es relativiert nichts, wenn sein Nachbar ein Täter war.)

Die gesamte linksintellektuelle Empörung gegen Hohmann richtete sich nur auf seinen Relativierungsversuch des deutschen Holocausts zu den Massenmorden in Russland.
Die Widerlegung Hohmanns hatte aber nicht über Statistik darüber zu erfolgen, wie viele russische Revolutionäre tatsächlich jüdischen Glaubens gewesen sind. Sondern über die Widerlegung der Unterstellung, die russische Revolution sei aus einem bewusst jüdischen Bewusstsein heraus organisiert worden. Die Handelnden mögen jüdisch gewesen sein, aber ihr Glaube war nicht, was sie zusammen gebracht hatte. Bei den Nazis aber war genau das Ideologie: Aus der Angehörigkeit zu einer Gruppe eine Ideologie zu konstruieren, die zur Mittäterschaft verpflichtet. Es kommt also für die Beurteilung eines Wortes nicht nur darauf an, wer etwas sagt, sondern auch für die Beurteilung einer Tat, warum er handelt.

Möllemann hingegen bediente die mittelmäßigen Antisemiten. Die, oder deren Eltern, sich schon am 9. Mai 1945 entrüsteten, jetzt müsse aber langsam mal Schluss sein mit dem Fingerzeig auf "uns". (Übrigens: Parteichef Westerwelle ließ Möllemann so lange gewähren, bis sich eine Mehrheitsmeinung gegen ihn gefunden hatte.)

Im Ergebnis: Reflexe bei den eher triebhaft ausgebildeten Schuldigen. Und wahnsinnige Konstruktionen zur ersehnten eigenen moralischen Entlastung bei den Intellektuellen.

Ich denke, Grass hat seine Werke nun, mit "letzter Tinte" entschlüsselt. Dies kurz vor Karfreitag und Ostern. In der Nähe des ans Kreuz genagelten, weil er menschliche Wahrheiten aussprach.

Bliebe die Frage: "Dürfen" wir denn jetzt trotzdem weiter über israelische Außenpolitik diskutieren und eine Meinung vertreten, die sich gegen seine Regierung richtet?
Wird etwas Richtiges falsch, wenn es von den Falschen gesagt wird? Nein, es wird nicht falsch. Aber unglaubwürdig und deshalb schädlich, denn es versperrt den Weg zu einer offenen Aussprache.

"Unglaubwürdig" in dem Sinne: Solange ich dem Sprechenden nicht vertrauen kann, dass er wahrhaftig, fair (und bei Israel auch: wohlwollend) an einer Konfliktklösung interessiert ist sondern verdeckt andere Interessen verfolgt, habe ich das Recht, ihm nicht zuzuhören.
Daraus folgt: In Deutschland darf israelische Politik kritisieren, wer genügend Vertrauen aufgebaut hat, kein verdeckter Antisemit zu sein. Genau das ist das Wesen von Diplomatie. Über Vertrauensbildung Kommunikationskanäle aufzubauen, über die man sich wahrhaftig austauschen kann. (Ich glaube, weil er das erfüllt, ist Sigmar Gabriel eine heftigere Debatte erspart geblieben.)

Aber das gilt für beide Seiten: In die Kritik an Grass werden jetzt auch etliche islamophobe Kübel ausgeschüttet. Und auch hier gilt: Das Richtige kann falsch oder wirkungslos sein, wenn es von den Falschen gesagt wird.

Grass zeigt aber auch, dass die Forschung über den Nationalsozialismus weiter gehen muss. Wir müssen offen legen, wie sich nicht verarbeitete Schuld in der Gesellschaft auswirkt. Das wird uns weiter beschäftigen. Und: Wie viele sind damals noch in die SPD eingetreten oder suchten ihre Nähe, nur um sich den Mantel der Verfolgten umhängen zu können?

3 Kommentare:

  1. Ach. Drei Punkte dazu:

    1.) Ich lese jede Menge (gute) Bücher. Die politisch-moralischen Meinungen der Autoren dagegen, gar ihre jeweiligen Ansichten zum Weltgeschehen, interessieren mich jedoch: null.

    2.) Herr Grass hat zeitlebens viel zu viel und zu viel zu vielem geredet, geschrieben und gemeint. Stets mit jäh erhobenem Zeigefinger, oft im barschen Tonfall des Erleuchteten, der mit Blinden spricht.

    Eine Sache jedoch - die mit der Waffen-SS - die hat er lieber verschwiegen. Die hätte ihm nämlich seine Lieblingsrolle, den Ober-Moralisten und Zeigefingerheber der Nation verhagelt - und den heiß ersehnten Literatur-Nobelpreis sowieso.

    Kaum hatte er seinen Preis, hat er sie aber sogleich hervorgeholt und prompt als grelle Marketing-Rakete in den Konsumhimmel geschossen.

    3.) Aus alledem leite ich für mich das Recht ab, die Verlautbarungen des Herrn Grass - gereimt, getöpfert, gebildhauert oder geklöppelt - nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen.

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  2. Danke für Ihren sehr guten Kommentar!

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  3. Anonym6.4.12

    Die Motivation wer, was, wie und welcher Reputation sagt spielt bei der Kommunikation eine Rolle - keine Frage. Interessant wird es für mich, wenn bei der Gegenrede Inhalt und Reputation/Motivation gemischt wird auf der Suche nach der eigenen Wahrheit. Inhaltlich stimme ich mit Herrn Grass nicht in allen Punkten überein ... aber das wäre auch eine Überraschung (es wäre auch langweilig, wenn wir alle die gleiche Meinung hätten) .
    Wer den Weg dann zur Aussprache verhindert, ist mir nicht immer klar: der, der den ersten Satz "geworfen" hat oder der, ihn leidenschaftlich emotional "zurückspielt" oder die Betroffenen oder die Beteiligten? Wer hat denn ein Interesse daran? Wer will einen Aussprache verhindern? Ich kann meine Ohren immer verschließen. Wer aber heute gehört werden will, muss laut rufen, um gehört zu werden.
    Ich gebe zu, die Debatte um die Vergangenheit von Herrn Grass nicht verfolgt zu haben.
    Man muss meiner Meinung nach aus der Geschichte lernen:
    Das Tun von Personen, Staaten und deren Repräsentanten, ... an den gleichen Maßstäben zu beurteilen (messen geht nicht - an welchem Maßstab?). Die Gesamtschau gibt mein Bild.
    Für mich ist das mein Weg mit der Vergangenheit Deutschlands umzugehen: Geschichte nicht bearbeiten, sondern daraus die Konsequenzen für das eigene Bewerten zu ziehen und das zukünftige Handeln daraus abzuleiten. Meiner Meinung nach ist dies einer der wenigen Wege mit der moralischen Schuld/Verbrechen/.. umzugehen.
    Insofern ist der Text von Herrn Grass für mich die Möglichkeit dies zu tun.

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