Wenn es etwas gibt, woran ich mein Bedauern darüber dass ich nicht ewig leben werde, festmachen kann, dann ist es die Erkenntnis, dass ich nicht mehr alle Bücher lesen werde, die ich gerne gelesen hätte. Nicht dass ich schon wüsste welche das alles sind, denn wenn ich sie jetzt benennen sollte, wäre die Liste sicher nicht so lang, dass meine Lebenserwartung dafür nicht reichen sollte. Aber andererseits ist es so, dass ich immer noch mehr entdecke als ich weglese.
So ging ich neulich nach Feierabend noch zu dem Buchhändler in der Einkaufspassage gegenüber dem Bahnhof von dem aus ich zur Arbeit pendle. Um ein paar bestellte Bücher abzuholen. Bücher die ich bestellte hatte, weil ich sie irgendwo aufgeschnappt hatte. Aber trotzdem streifte ich, wo ich nun mal da war, über die Bestsellerlisten. Aber alles langweilig. Das meiste über Probleme, die ich lange hinter mir habe oder mit deren Lösung ich mich nicht mehr beschäftigten muss. Und das galt sowohl für die Sachbücher als auch Romane und Erzählungen. Es galt aber auch für die Emporkömmlinge, die sich ohne Berufsabschluss für "Wissenschaftsjoirnalisten" halten, und mir auf YouTube die Lichtgeschwindigkeit erklären wollen. Ich ging also am Regal mit den Bestsellern vorbei ins Innere des Ladens. Das hätte ich sowieso tun müssen, denn im Inneren des Ladens war ja die Kasse, bei der meine Bestellungen hinterlegt waren. Und bog ich noch mal rechts ab zu den Romanen. Und wie von der Geisterhand meines Überich bestellt lag da ein Buch von Paul Auster. Amerikanischer Gegenwartsautor. Der Gatte von Siri Hustvedt, der Autorin von "Was ich liebte", einem der dichtesten und verstörendsten Roman, die ich gelesen habe, vergleichbar noch am ehesten mit Don de Lillo's Atombombenroman. Also, bei bekannten Namen greife ich gerne mal zu und lese den Buchrücken.
Und da traf es mich. "Seit seiner Pensionierung widmet sich Professor Baumgartner statt der wissenschaftlichen Arbeit seinen Erinnerungen." Unglaublich. Denn, obwohl ich noch nicht pensioniert bin, habe ich auch damit angefangen, "mich meinen Erinnerungen zu widmen". Seitdem bei meinem Arbeitgeber das Wort Altersteilzeit die Runde macht, kaum dass ich endlich obenauf angekommen war, hatte ich damit begonnen, nein eigentlich hatte es mich begonnen, mich mit meinem Jahrzehnte langen Tagebuch zu beschäftigen. Eine der Disziplinen, die ich seit Jahrzehnten durchhalte. Ich kann quasi in meinem eigenen Leben spazieren gehen, wenn mir danach ist. Aber ich hatte auch begonnen, darüber nachzudenken, ob ein Tagebuch nicht eigentlich der Fundus für eine Biografie oder eine Sammlung von Erzählungen sein kann. Ja und als ich damit anfing, merkte ich, dass es mir Spaß macht. Und wie das so ist. Wie bei Gesprächen mit langjährigen Bekannten oder Freunden muss man mehrere Runden um den See oder Teich drehen, bis man der Sache auf den Grund kommt. Unter der Oberfläche bergen wir unglaubliche Tiefen von Erinnerungen. Die uns gar nicht sichtbar und bewusst sein, solange wir auf der Oberfläche des Sees herumschippern
Dieser Professor Baumgartner also hat ein Arbeitszimmer, dass er sich früher mit seiner verstorbenen Frau geteilt hat, einer Übersetzerin und Lektorin. Beide haben viel geschrieben und in ihren Schreibtischschubladen gesammelt. Und Baumgartner fängt irgendwann an, darin abzutauchen.
Ich las also ein bisschen in dem gerade mal 200 Seiten langen Roman und dachte, den nehme ich auch noch mit und lese ihn als erstes. Und da bin ich gerade mittendrin. Paul Auster beschreibt hier mit Sicherheit sein eigenes Altern und sein Hadern damit. Und vieles, dass ich auch gerade bei Bronnie Ware gelesen hatte (die mit den "5 Dingen"..). Die Kunst beim Schreiben über das eigene Leben ist aber, eine Erzählperspektive zu finden, die es für andere interessant machen könnte. Denn einerseits habe ich ja nur erlebt, was Millionen andere auch erlebt haben. Aber andererseits auch wieder nicht. Denn wenn ich so darüber nachdenke, habe ich vielleicht Dinge erlebt, die andere nicht erlebt haben. Oder in dieser Kombination nicht erlebt haben. Wer weiß das schon.
Was also könnte das Besondere an meiner Perspektive sein? Darüber denke ich nach. Und was mir als erstes auffiel war, dass es manche Stationen zum Beispiel meines Berufslebens inzwischen nicht mehr gibt. Ich war bei Deutschlands größtem Stromversorger in der Hauptverwaltung, Zentralbereich "Energieübertragung". Den gibt es nicht mehr, nicht mal mehr das Gebäude. Dann war ich beim größten IT-Unternehmen der USA. Es hat seitdem seine Bedeutung eingebüßt. Jetzt bin ich bei Europas größtem Autohersteller und sein Management arbeitet hart, auch ihn in die Bedeutungslosigkeit zu verwalten. Ich bin also quasi ein umherreisender Ingenieur, der Arbeitgeber betritt, wenn diese gerade auf ihrem Höhepunkt sind. Danach geht es nur noch bergab. Und wo ich so spreche: Ich bin auch in ein Land geboren, als es gerade auf seinem Höhepunkt war. Danach ging es nur noch bergab. Zuerst schleichend, dann immer deutlicher.
Nun können sich auch Abstiege dramatisch und aufregend gestalten. Aber ich erlebe es eher nicht so interessant. Eher so wie das eigene Altern. Jeden Tag ein bisschen. Undramatisch im Erleben, aber schon dramatisch in den Ergebnissen, wenn sie einem bewusst werden. "Abstieg" könnt ein erster Titel sein. Aber wer will sowas lesen, die meisten erleben das doch auch selbst. Aber vielleicht für nachkommende Generationen interessant. So wie ich mich nicht satt lesen kann an Stefan Zweigs "Unsere Welt von gestern", das seit 20 Jahren unsere Gegenwart beschreibt.
Ich muss mal sehen, mir das Ganze durch den Kopf gehen lassen. Vor allem aber Momente der Muße und der Kontraktion finden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen