Dienstag, 4. Dezember 2012

Was Berlin-Wolfsburg-Pendler so mitmachen

Ich mache es seit sechs Jahren. Früher nur zwei oder drei Tage die Woche. Seit einigen Monaten täglich. Und ich muss sagen: Es wird schwieriger. Meine Güte, sind wir alle tapfer. "Wir", das sind inzwischen einige hundert Berliner, die täglich mit der BahnCard100 zur Arbeit nach WOB pendeln.

Doch das Pendeln mit der Deutschen Bahn bedeutet echte Einbuße von Lebensqualität:

1. Tägliche, planmäßige Überfüllung
Mit Glück bekommt man einen Sitzplatz auf dem Boden an der ICE-Tür (wenn man nicht täglich 8 EURO für Reservierungen ausgeben will).

Die Gründe für die Überfüllung auf dieser Strecke: Die Wagenkonfiguration. Vorne werden leere 1. Klasse Waggons mitgeführt. Hinten gibt es zu wenig 2. Klasse Waggons. Wir hätten alle mühelos Platz, wenn die Bahn ihre ICEs nach der tatsächlichen Nachfrage konfigurieren würde. Aber sie schlägt viel lieber Kapital aus der Verknappung: Die Nachfrage nach Reservierungen treibt deren Preise. Als das Onlineticket eingeführt wurde, kostete die Reservierung nichts. Dann nahmen Mehdorn und Homburg 2,50 EUR pro Strecke. inzwischen sind sie bei sage und schreibe 4 EUR (8 DM!) angelangt.
Der zweite Grund für die Überfüllung der ICEs zwischen Berlin und Wolfsburg gilt für jeden zweiten ICE auf dieser Strecke: Ins Rheinland bindet die Bahn zwei Teil-ICEs aneinander, die sie in Hamm teilt. Auf der gesamten Zuglänge werden damit 1 Speisewagen und 2 Triebwagen mehr eingesetzt. Würde die Bahn die Strecken Richtung Köln und Düsseldorf mit eigenen, kompletten Zügen fahren, könnten diese also 3 Waggons der 2. Klasse mehr mitführen. Den Bedarf für einen zusätzlichen Zug gibt es locker.

Inzwischen weiß ich mehr über die Prozesse des Fernverkehrs der Bahn als die in Wolfsburg. Verantwortlich für die Zugkonfiguration ist das Flottenmanagement in Frankfurt. Angeblich erfolgt es auf Basis der Verkaufszahlen und der Meldungen der Zugchefs über die tatsächliche Aus- bzw. Überlastung entlang der Strecke. Aber Anpassungen an den tatsächlichen Bedarf dauern, weil das Eisenbahnbundesamt die Betriebserlaubnis für einen ICE angeblich immer nur für eine Konfiguration erteilt. Mal eben die Kapazitäten an den Bedarf anzupassen, das geht so nicht..

Gestern habe ich mal gezählt: Pro Waggon waren es 15 bis 20 Leute, die auf dem Boden saßen. 70 SItzplätze hat so ein Waggon. Die fast 130% ige Auslastung beschert dem Bahnvorstand Ulrich Homburg einen satten Profit (und Bonus?).

2. Verspätungen
Das zweite Ärgernis für Pendler sind die fast täglichen Verspätungen. In letzter Zeit gehen diese auch schon mal in mehrere Stunden, z.B. wenn eine Oberleitung abgerissen wird oder das Stellwerk in Spandau wegen Stromausfall ausfällt. Und wie immer gibt es dann nicht nur keine Leistung, sondern auch keine Information.

Verspätungen, über die im Internet nicht informiert wird, sind in beiden Richtungen ärgerlich: Morgens hätte man sich zu Hause etwas mehr Zeit lassen können. Man verbringt diese dann auf dem unwirtlichen Hauptbahnhof Berlin. Hier wird mit Bänken gegeizt und die Lounge für Bahncardkunden ist inzwischen auch überfüllt. Und zum Feierabend hätte man die Zeit, die man auf dem Bahnsteig verbringt, lieber im Büro als produktive Arbeitszeit verbracht.

So summieren sich an 200 Arbeitstagen im Jahr locker 100 x 20 Minuten = 2.000 Minuten = 33,3 Stunden allein an unbezahlter Doofzeit auf Bahnsteigen. Rechnet man die Stunden hinzu, in denen man wegen Überfüllung des Zuges nicht an seinem Rechner arbeiten kann... kommt man zu dem Schluss: Das lohnt sich nicht.

3. Schlafmangel und Krankheiten
Dazu kommen körperliche Belastungen wie Hitze und Kälte wegen nicht funktionierender Heizungen und Klimaanlagen. Und bei Erkältungswellen sorgen die geschlossenen, durchströmten Abteile wie Ansteckungsgarantien.

Oder der Schlafmangel. Seitdem ich täglich pendle mache ich zum ersten Mal seit Jahren wieder die Erfahrung, unausgeschlafen auf der Arbeit zu sein. Das hat nun nichts mit der Bahn zu tun, sondern mit der Reisezeit. Steht man als Berliner vor der Entscheidung, ein Jobangebot in Wolfsburg anzunehmen, neigt man dazu, sich die Reisezeit schön zu rechnen. Man stellt hauptsächlich die Zeit auf dem Gleis in Rechnung, die nominell (ohne Verspätung) ca. 1h beträgt. "Die ist mancher ja sogar innerhalb von Berlin unterwegs." habe ich schon oft gehört.

Die ICE's fahren ab Berlin Hbf um 06:31 (Ankunft WOB 07:38h) und 07:48h (Ankunft 08:54h). Zurück fährt man um 16:18h oder 17:05h. Dazwischen fahren ein paar IC's. Für den IC sprechen die bequemeren Sitze und manchmal sind sie leerer als die ICE's. Dagegen sprechen die längere Fahrtzeit und die Tatsache, dass man hier nicht gut auf dem Boden sitzen kann. Der Grund hierfür sind die Schiebetüren zwischen den Waggons, die nicht über eine innere Schiene laufen, sondern innen.

4. Shuttlebusse ins Werk
Aber hinzu kommt: Die Anreise zum Hbf Berlin beträgt mindestens 15 Minuten, locker auch 30. Dazu kommt die Busfahrt vom Bhf WOB ins Werk. Und die dauert locker nochmal 20 Minuten zwischen Ankunft am Bhf und der Haltestelle, an der man aussteigt. Immerhin hat die Taskforce-Verkehr (Link) inzwischen werksinterne Shuttlebusse organisiert. Man läuft entlang des Kanals über Tor 17 ins Werk. Die große Schleife über Tor Ost überspringt man so.

So kommt man auf eine Reisezeit pro Richtung von fast 2h. 4 Stunden Reisen für 7, 8 oder 9 Stunden Arbeit, das ist ein schlechter Wirkungsgrad. Ich kann sagen: Das macht sich körperlich bemerkbar. Und seelisch: Man lebt eigentlich nur noch am Wochenende in Berlin, weil man unter der Woche überhaupt nichts mehr erledigt bekommt.



Warum tue ich es trotzdem? Weil das Paket ansonsten stimmt: Das Lohnniveau ist außerhalb des von desindustrialisierten Berlins höher, die Arbeit ist interessant und die Kollegen sehr in Ordnung. Ich kann als Ingenieur in Berlin nur schwer einen solchen Job finden, das weiß ich inzwischen.

Allerdings sollte ich mir mein Gehalt mal auf einen Bruttostundensatz inkl. Reisezeiten umrechnen. Aber das traue ich mich noch nicht..

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