Nicht selten habe ich Zugchefs gefragt, ob ich mich kulanterweise in die 1. Kl. setzen kann. Denn dort sind immer reichlich freie Plätze vorhanden. Antwort der meisten männlichen Zugchefs: Nein, darauf habe ich keinen Anspruch. Antwort von ca. jeder zweiten Zugchefin: Ja, aber behalten Sie es für sich.
Als Bahncard100 Nutzer ist man Stammkunde. Von jedem anderen Unternehmen ist man es gewohnt, einen Ausgleich zu bekommen, wenn die Lieferung oder Leistung schlecht ist. Die Bahn hingegen blockt hart ab. Mit Verweis auf die Gesetzeslage. Die genaue Stelle konnte mir aber nie jemand nennen. Erst neulich auf Twitter machte mich ein früherer Kollege auf die Stelle aufmerksam:
In der 1938 von Nazis verfassten, sog. Eisenbahn-Verkehrsordnung EVO (Quelle) heißt es:
§ 13 Unterbringung der Reisenden
(1) Der Reisende hat Anspruch auf Beförderung in der Klasse, auf die sein Fahrausweis lautet. Ein Anspruch auf einen Sitzplatz oder aufUnterbringung in der 1. Klasse bei Platzmangel in der 2. Klasse besteht nicht. Der Tarif kann Ausnahmen zulassen. Das Eisenbahnpersonal ist berechtigt, den Reisenden Plätze anzuweisen. Auf Verlangen der Reisenden ist es verpflichtet, für deren Unterbringung zu sorgen.
(2) Der Reisende hat keinen Anspruch auf Entschädigung, wenn er keinen Sitzplatz findet und ihm keiner angewiesen werden kann.
Dieser Paragraph bewirkt zweierlei:
1.) Überlegung = Reiner Profit
Er gibt dem Bahn Management einen Freifahrtschein bei der Kapazitätsplanung. So wie auf der Strecke Berlin - Hannover nachgewiesenermaßen kann die Bahn überall mit Unterdeckung arbeiten. Sie verkauft mehr Fahrkarten als Plätze vorhanden sind - und zwar wissentlich, denn ihre Informationstechnik gibt das längst her. Zu den 70 Sitzplätzen eines ICE Großraumwagens kommen auf der Strecke Berlin - Hannover zwischen 5 und -zu Spitzenzeiten gezählt: 20 stehende Fahrgäste. Diese 7 bis 28% zusätzlicher Umsatz wirken für die Bahn als reiner Profit, weil ihnen keine Kosten für Kapazitäten entgegenstehen. Kein Wunder, dass die Bahn glänzende Geschäftszahlen meldet.
2.) Steigende Reservierungskosten
Es ist die Grundlage für das Geschäftsmodell mit Reservierungen. Anfangs gab es sie für Onlinekunden gratis, inzwischen nimmt die Bahn sage und schreibe 4 EUR für eine Platzreservierung in der 2. Kl. - pro Strecke.
Der §13 gehört abgeschafft oder stark überarbeitet. Er muss so umformuliert werden, dass die Bahn einen Malus erfährt, wenn sie ICEs und ICs planmäßig überfüllt, bzw. mit Unterkapazitäten arbeitet. Es muss ausnahmsweise erlaubt sein, nicht allen Fahrgästen einen Sitzplatz anbieten zu können. Die Sitzplatzreservierung muss im Preis begrenzt werden, mindestens halbiert werden und nur die Funktion erfüllen, zwischen Fenster und Gang sowie Großraum und Abteil wählen zu können, solange möglich.
Ferner muss der Fahrgast einen Entschädigungsanspruch haben, wenn er keinen Sitzplatz in seiner Wagenklasse findet. Mindestens muss ihm ein Sitzplatz in der 1. Kl. angeboten werden.
Nur so kann man Druck auf das Bahnmanagement aufbauen, für nachfragegemäße Kapazitäten zu sorgen.
Neuvorschlag für den §13:
§ 13 Unterbringung der Reisenden
(1) Der Reisende hat Anspruch auf Beförderung in der Klasse, auf die sein Fahrausweis lautet. Der Reisende hat grundsätzlich einen Anspruch auf einen Sitzplatz in der Wagenklasse seines Fahrausweises. Bei Überbelegung der 2. Klasse muss ihm das Eisenbahnpersonal ohne Mehrkosten einen Sitzplatz in der 1. Klasse anbieten.Ein Anspruch auf einen Sitzplatz oder aufUnterbringung in der 1. Klasse bei Platzmangel in der 2. Klasse besteht nicht. Der Tarif kann Ausnahmen zulassen.Das Eisenbahnpersonal ist berechtigt, den Reisenden Plätze anzuweisen. Auf Verlangen der Reisenden ist es verpflichtet, für deren Unterbringung zu sorgen.
(2) Der Reisende hat einen Anspruch auf Entschädigung, wenn er keinen Sitzplatz findet und ihm weder in der 1. Klasse noch der 2. Klasse einer angewiesen werden kann.Diesen Vorschlag habe ich als e-Petition an den Bundestag eingebracht. Derzeit wird sie geprüft und ich hoffe, in kürze veröffentlicht.
UPDATE 19.12.2012
Auf Twitter bekam ich von @Elektronews den Hinweis, dass die EVO von den Nazis in Kraft erlassen wurde. Deshalb atmet sie auch diesen Geist, der den Fahrgast der Bahn zu einem fast rechtlosen Untertan macht. Beförderungsbedingungen von Bahnen regelt der Bund auch heute noch an den sonst gültigen Verbraucherrechten vorbei. Interessanter Hintergrundartikel bei Der-Fahrgast.de (Pro- Bahn): Link
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