"No one notices the customs slip away"Al Stewart, On The Border (1979)
Ich war um 1h das erste mal wach. Durch die offenen Türen konnte ich unsere Weihnachtsbaumbeleuchtung sehen. Das beruhigte mich sehr und ich hätte wieder einschlafen können. Aber ich fand den Anblick zu schön, um einfach wieder weg zu dämmern. Außerdem war es einer der ganz wenigen Momente in diesem Monat, in dem niemand etwas von mir wollte..
Also setzte ich die iPod Kopfhörer auf und klickte mich durch zum Podcast von SWR2 Wissen. Ein sehr interessanter Beitrag über Kurt Gödel. Den Mathematiker, der die mathematische Beweisführung in einen Algorithmus wandelte, ich glaube es war das, was mein Matheprofessor "induktive Beweisführung" nannte (und was ich mich stets weigerte als Beweisführung anzuerkennen - aber ich bin kein Mathematiker). Logische Schlüsse in eine "Sprache" zu wandeln, so dass sie berechenbar werden, das ist eine reife Denkleistung.
Der Moderator interviewte einige Mathematikprofessoren und eine Biographin. Einen der Profs imponierte am meisten, dass Gödel mit "gerade mal sieben Veröffentlichungen" in die Geschichte eingegangen sei. Tja, kann man da sagen, so ist das mit Substanz und Verdichtung. Ich entnahm dem "Feature", dass Gödel ein tiefer, intensiver, getriebener Denker gewesen sein muss, der einer Ahnung auf der Spur war. Manchmal hat man ja eine blitzartige Ahnung von etwas und sucht dann einen bewussten Weg dorthin. Vielleicht ging es ihm so. Jedenfalls habe ich erst heute Nacht verstanden, was uns unser Matheprof. damals beibringen wollte, als wir uns unterm Weihnachtsbaum mit Klaus Habethas Höherer Mathematik quälten. Auch Hilberträume fielen mir wieder ein, waren das nicht die unendlichen aber dennoch abzählbaren Zahlenmengen?
Gödels Biographin interessierte sich hingegen mehr für sein Essverhalten und seine "mysteriöse Beziehung" zu einer Tänzerin. Und dass er seinen ersten Kuss auf der Rückseite eines Ausleihscheins der Universitätsbibliothek vermerkte. (Ich kann da mithalten und bin damit vor 20 Jahren mal in ein Verhör geraten: Im Inlay einer R.E.M. CD schrieb ich mal die Emailadresse einer Softwareingenieurin im Dortmunder Technologiepark auf. Wir fuhren 3x die Woche im selben Bus. Aber was ich ihr damals beweisen wollte gelang mir weder induktiv noch deduktiv. Aber Ende gut, alles gut.. :-)
Bei der Schilderung der Spaziergänge Gödels mit Einstein in Princeton schlief ich wieder ein. "Die Heimwege zu Fuß mit Einstein sind das einzige, was mich noch morgens aufstehen lässt." soll er nach dem Tod seiner Frau mal notiert haben. Er litt unter der Einsamkeit und schätzte das gute Gespräch mit einem befreundeten ebenbürtigen Kollegen - wer kann das nicht verstehen?
Als ich wieder wach wurde war ich froh, dass ich mir den Arbeitstag für Heimarbeit "freigeschaufelt" hatte, denn ich wollte noch ein bisschen darüber sinnieren. Vordergründig musste ich ein paar Features runterschreiben. Aber was im Kopf schon parat liegt, kann man mit einer schmalen Partition der Gehirnressourcen erledigen. Auf der größeren sinnierte ich meinem ersten Weihnachten als Student nach. Im Nachhinein muten Zeiten bestandener Prüfungen immer nostalgisch an. 1989 war ein bewegter Herbst und ebenso die Weihnachtszeit. Die Rumänen machten mit den Ceaușescus kurzen Prozess. Und wir quälten uns durch die Klausuren in Mathe und Physik. Ohne ebendiese Leistungskurse im Abitur hätte ich das nicht geschafft.
Aber der Kontrast zwischen dem abstrakten Mathematikstoff und dem sehr konkreten Weihnachtsbaum, unter dem ich las, hatte etwas..
Ich bin noch nicht in dem Alter, in dem Freunde sterben. Aber was ich vorhin beim Einkaufen in der Mail erlebt habe, ist das Wegsterben alter Bräuche. Nein, keine Kinderchöre, die für Spenden singen. Oder dass Passanten in der Ubahn oder auf dem Bürgersteig etwas weniger asozial oder raumunfähig sind. Selbst wenn wir über kommerzielle Bräuche reden: sie sterben weg.
Es gab eine Zeit, da wurden Produkte und Lebensmittel weihnachtlich verpackt oder dekoriert. Da gab es die Sachen von Sturz, Riegelein und wie sie hießen und heißen. Heute gehen die Supermärkte auf Nummer sicher: Ein, zwei Aussteller von Lindt oder Ferrero und damit hat es sich. In der Menge so bemessen, dass restlos verkauft wird und nach Weihnachten nichts ausverkauft werden muss.
Auch war früher mehr geschmückt oder dekoriert. Oder bilde ich mir das ein? Mich mutet es an, als würden die Händler das Geschäft noch machen wollen, aber sich nicht mehr zum Anlass bekennen müssen. Früher warfen wir ihnen vor, Bräuche kommerziell auszunutzen. Coca Cola Trucks, was für ein Mist, heulten die Grünen. Heute beziehen sich Händler immer weniger auf diese Bräuche. Und warum wohl..?
Das ist traurig. Wenn die Bräuche schwinden, dann schwindet Identität. Dann schwindet die Gewissheit über das Selbstverständliche. Das ist an sich leider nicht mehr neu, aber mir scheint, es erwischt allmählich auch Weihnachten im Einzelhandel..
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