Donnerstag, 31. August 2023

Das allmähliche Verschwinden der Heimat

Wenn nahe stehende Menschen sterben unterscheiden wir zwischen "davor" und "danach". Wir hatten vor etwa zehn Jahren, im Unglücksjahr 2013, einen regelrechten Schub. Da starben Großeltern, Onkels, Tanten aber auch Cousinen.

Jetzt scheint der Sensenmann wieder durch die Reihen zu gehen. Erst vorigen Sonntag waren wir zu einer Beerdigung in Gelsenkirchen. Die Eltern und Freunde waren immer ein Grund, ins Ruhrgebiet zu fahren. Aber so wie wir unsere Verwandten überleben geht es auch den alten Freunden. Und inzwischen gibt es die ersten, die gar keine Verwandten mehr im Ruhrgebiet haben.

Uns wird bewusst, dass es auch uns irgendwann so gehen wird. Dann kommen wir nicht mehr her. Dann fahren wir vielleicht einmal an Dortmund oder Gelsenkirchen vorbei und erinnern uns, das das mal unsere Heimat, unser Lebensmittelpunkt war. 

Ähnliche Gefühle hatte ich schon beim Anblick des abgerissenen RWE Hochhauses in Essen. Ich weiß noch, wie ich am 2. Mai 1996 hier meinen ersten Berufstag als Ingenieur antrat. Zwar kannte ich es schon aus meiner vorherigen Zeit als Werkstudent. Aber jetzt dachte ich: "Und das werde ich nun 40 Jahre machen?". Die vor mir liegende Zeit schien mir unendlich, unermessbar. Jetzt habe ich schon drei Viertel dieser Zeit hinter mir. Und sie schien mir nicht lang, weil fast dauernd etwas los war. 

Ich blättere zurück in meine Fotosammlung und sehe meine Eltern in meinem heutigen Alter. Ich sehe mich mit 20 oder 30 und halte mich da aus heutiger Sicht noch für ein Kind. Wie ambitioniert und obrigkeitshörig ich war. Wie lange ich brauchte, um vom Mitschwimmen zum Schwimmen in die eigene Richtung zu kommen. 

Und wie jung mir überhaupt Verwandte erscheinen, die ich damals für erwachsen und mitten im Leben hielt. Heute weiß ich von den meisten, wie passiv sie doch eigentlich durchs Leben gegangen sind. 

Umso heller strahlen die wenigen, die wirklich Spuren hinterlassen haben. Auch diese verwischt die Brandung im Sand allmählich. Aber sie waren zumindest mal da. Und es gab Leute, die da mitgemacht hatten, die es gesehen und anerkannt hatten. 

Mit diesen wenigen habe ich mich fast immer gut verstanden. Wir haben uns oft ausgetauscht. Und irgendwie entwickelten wir ähnliche Haltungen zum Leben. Man muss es nutzen, es selbst zu lenken versuchen - es greifen auch so schon genug andere ins Steuer. Und stolz sein auf alles was man gegen die Strömung schafft. Wir wussten und wissen es. Wir leben bewusst und schöpfen. 

Und irgendwann wussten wir um unsere eigene Sterblichkeit. Zunächst ein Schock, dann eine Art Befreiung. Dann kommt der Tod als der große Bruder des Schlafes.

Diese Menschen kann ich relativ leicht gehen lassen. Wenn da nichts Ungesagtes mehr gesagt werden wollte. Wenn man voneinander wusste. Ich kann dann ganz bewusst, und nicht so sehr überwältigt, Abschied nehmen. 

Am Sonntag verstand ich zum ersten Mal, warum es Trauer"Feier" heißt. Die beste Ehefrau von allen gestaltete den Tod ihres Vaters so, dass sie ihn noch einmal, in aller Sanftmut und mit den richtigen Klängen, hoch leben ließ. Das war würdig und schön. 

Natürlich verstand das nicht jeder. Und natürlich wissen die meisten Verwandten und Bekannten auch in höherem Alter immer noch nicht, was Würde und Anstand sind, was es heißt, aktiv zu leben. Ich habe mich früher immer gefragt, ob es diese Leute nicht auch in anderen Verwandtschaften gibt. Warum ließt man sie nie bei Hermann Hesse zum Beispiel? Heute weiß ich es: Man versaut sich nur den Tag und das eigene Erleben, wenn man sie wahrnimmt. 

Und so verließen wir am Sonntag unsere Heimat und sahen sie im Rückspiegel wieder etwas blasser werden.

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