Montag, 22. November 2010

Die Zeit läuft rückwärts

Vor zwei Jahren, als wir in Mitte auf die Anti-AKW Demo gingen, fiel es mir zum ersten mal auf: Die Zeit hat angefangen rückwärts zu laufen. Ein paar Beispiele aus den Nachrichten:

- Gorleben
- Raketenstationierungen in Europa
- Terrorismus
- Ölkrisen
- Vollbeschäftigung und konzeptloses Gerede über Einwanderung
- Inflation

Und auch die Fronten innerhalb von Europa werden bald wieder aufbrechen: Sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder zwischen oben und unten.

Sonntag, 14. November 2010

Am Werbellinsee

Neben dem Kanzlerbungalow vebinde ich Helmut Schmidt noch mit einer anderen deutschen Sehenswürdigkeit: Im Dezember 1981 empfing ihn Erich Honnecker am Werbellinsee. Auf der Agenda stand die Hochrüstung beider deutscher Staaten mit Mittelstreckenraketen: Honneckers DDR hatte bereits welche verpasst bekommen, Helmut Schmidt machte sich für die konsequente Umsetzung des NATO - Doppelbeschlusses stark: Die Nachrüstung ("Kalte Stunden am Kamin", Deutschlandradio). Am Tag von Schmidts Abreise verhängte Polens General Jaruzelski das Kriegsrecht.

Das ist lange her, mir aber noch präsent, weil es der Beginn der Friedensbewegung auf unserem Gymnasium war. Der "Werbellinsee" geisterte wochenlang durch die Abendnachrichten. Ich stellte ihn mir als den oberoffiziellsten und deshalb langweiligsten (so langweilig wie die "alten" Staatsmänner) Sees Berlins vor.

Jetzt erhielten wir eine freundliche Einladung "an den Werbellinsee". Das klang aufregend. Und war es auch. Ich kann hier nicht alle Fotos zeigen und nicht alle Geschichten zum Besten geben, von Honnecker bis Merkels Jugend. Aber soviel will ich sagen: Der See lohnt sich als Ausflugsziel.

Der See liegt nördlich von Berlin, in der Schorfheide, in grauer Vorzeit soll es hier mal Elche gegeben haben. Erich Honnecker empfing neben Schmidt auch F.-J. Strauß im nahe gelegenen Jagdhaus Hubertusstock.

Hier gingen sie gerne zur Jagd, die Großkopferten. Nicht nur der SED, sondern auch schon die Hohenzollern und die späteren Reichspräsidenten der Weimarer Republik. Man erzählt sich, dass man dem Jagdglück der Herren immer etwas auf die Sprünge helfen musste, damit sie ihre gute Laune behielten.. (Lesenswert: "Der Werbellinsee..") Das Jagdhaus wurde in den siebziger Jahren abgerissen und neu aufgebaut. Jetzt mit standesgemäßem, modernen Bad. Heute ist es privatisiert und wird als Hotel betrieben. Gott sei Dank haben die Betreiber an Stil und Anmutung des Interieur wenig geändert.

Kaiser Wilhelm reiste übrigens mit dem Zug von Berlin zum eigens für ihn errichteten Kaiserbahnhof Joachimsthal (2. Foto).








Havelland Regenrallye







Freitag, 12. November 2010

in fallersleben

ein tag wie in einem amerikanischen roadmovie. wir arbeiten heute in den büros in fallersleben. draußen herrscht dauerregen, der himmel ist dunkel und es ist kalt. neben uns verläuft die bahnlinie, ice's richtung heimat. und hier werden die güterzüge mit autotransportern zusammengestellt. dahinter die landstraße. dort gibt es einen pizzastop. dorthin gehen wir essen.

man muss die fussgängerbrücke über die bahnlinie hochkraxeln, gegen den wind, um zum pizzastop zu gelangen. ein container, zur bude umgebaut. hier halten lkws und lieferwagen, wer halt so vorbei kommt. im radio läuft (gute) 80er musik. the lion sleeps tonight.

an der einen wand hängt eine panoramatapete. der pizzabäcker spricht tatsächlich italienisch. wir bestellen pizza und was er gerade so da hat. wir sitzen und warten, hören die musik, schauen raus auf die verregnete landstraße und schweigen. immer mehr lkws halten an. der laden füllt sich mit monteuren und fahrern.

die zeit steht still und wir sacken hier ab. so könnten wir jetzt ewig regungslos sitzen bleiben..der regen schlägt gegen die scheibe... dann kommt unser essen.

G20 - "Wettbewerbsfähigkeit" als Euphemismus für Lohndumping

Kurzer Kommentar zu Merkels G20-Statement:

Die deutschen Exportüberschüsse sind ein Ausdruck von Lohndumping bei Fachkräften. Merkel und Kannegießer nennen das Wettbewerbsfähigkeit.

Denn wir müssen um so viel billiger sein, wie wir schlechter gemanagt werden, als Unternehmen in anderen Ländern.

#G20

Mittwoch, 10. November 2010

Laterne, wer nicht lizenziert, der sieht bald Sterne

Satire aus/

Aus gegebenen Anlass erinnert die GEMA daran, dass das von Kindergärten an St. Martin gesungene Liedgut tlw. noch urheberrechtlich geschützt ist.

Ich zitiere hier mal am besten O-Ton:
Werke jüngerer Urheber, die ihre Rechte an eine Verwertungsgesellschaft übertragen haben, sind hingegen geschützt und dürfen nur mit Lizenz öffentlich aufgeführt werden. Die Anmeldung erfolgt über die örtliche GEMA-Bezirksdirektion.

Allen Ernstes empfiehlt die GEMA Kindergärtnern, sich hinsichtlich der Urheberrechtslage der für den morgigen Martinstag geplanten Lieder unsicher sind, vorher in der Datenbank der GEMA zu recherchieren: www.gema.de/musikrecherche/

Die Märkische Oderzeitung lässt mich fassungslos zurück mit dem Hinweis der GEMA:
Allerdings gibt es auch eine Reihe moderner Lieder zum Martinstag. Wer diese aus den Liederbüchern einfach rauskopiert, um etwa ein Liedheft für Eltern und Verwandte zu basteln, handelt illegal. Die VG (Verwertungsgesellschaft) Musikedition habe deshalb 2009 zusammen mit der Gema den Kindergärten in Deutschland einen Lizenzvertrag angeboten, sagte der Geschäftsführer der VG, Christian Krauß, am Mittwoch.

Quelle: Link

Unfassbar!

Laterne, wer nicht lizenziert, sieht bald Sterne



/Satire aus/

Aus gegebenen Anlass erinnert die GEMA daran, dass das von Kindergärten an St. Martin gesungene Liedgut tlw. noch urheberrechtlich geschützt ist.

Ich zitiere hier mal am besten O-Ton:
Werke jüngerer Urheber, die ihre Rechte an eine Verwertungsgesellschaft übertragen haben, sind hingegen geschützt und dürfen nur mit Lizenz öffentlich aufgeführt werden. Die Anmeldung erfolgt über die örtliche GEMA-Bezirksdirektion.

Allen Ernstes empfiehlt die GEMA Kindergärtnern, sich hinsichtlich der Urheberrechtslage der für den morgigen Martinstag geplanten Lieder unsicher sind, vorher in der Datenbank der GEMA zu recherchieren: www.gema.de/musikrecherche/

Die Märkische Oderzeitung lässt mich fassungslos zurück mit dem Hinweis der GEMA:
Allerdings gibt es auch eine Reihe moderner Lieder zum Martinstag. Wer diese aus den Liederbüchern einfach rauskopiert, um etwa ein Liedheft für Eltern und Verwandte zu basteln, handelt illegal. Die VG (Verwertungsgesellschaft) Musikedition habe deshalb 2009 zusammen mit der Gema den Kindergärten in Deutschland einen Lizenzvertrag angeboten, sagte der Geschäftsführer der VG, Christian Krauß, am Mittwoch.

Quelle: Link

Sonntag, 7. November 2010

Kanzlerbungalow


Foto: Bundesregierung

Der Markt für Old- und Youngtimerautos wächst seit Jahren. Das interessante an Youngtimern ist ja, dass sie eben erst unbemerkt aus dem alltäglichen Blickfeld verschwunden sind, ohne dass wir es bewusst bemerkt haben. Erst wenn man den einen oder anderen mal wieder sieht, denkt man: Lange nicht gesehen! Und: Sah doch nicht so schlecht aus, wie ich damals dachte..

Was eben noch Alltag war, schätzen wir nicht besonders. Und neue Designs schätzen wir manchmal noch weniger. Erst recht in schwierigen Zeiten. Dann lebt eher die Sehnsucht nach der ganz alten Zeit, egal wie schwer die gewesen ist. Unter Altbau versteht man in Berlin ja immer noch die Häuser des Großbürgertums, errichtet zur Gründerzeit.

In Berlin sind viele Gebäude abgerissen worden, die als hässliche Symbole des hastigen Wiederaufbaus nach dem Weltkrieg oder der DDR galten. Warum wir das architektonische Erbe der DDR missachten, das der Kaiser-Wilhelm-Zeit aber nicht, verstehe ich nicht so recht. Ich glaube, dass wir manchen Abriss noch bereuen werden.

Was ich soeben wieder entdecke, sind Bungalows. Die ans Bauhaus angelehnten Konstruktionen der Nachkriegsmoderne.

"Die" Ikone schlechthin ist für meinen Geschmack der Bonner Kanzlerbungalow. Der steht für nächstes Jahr in unserer Ausflugsplanung. Seit dem Regierungsumzug steht er leer. Seit 2005 hat ihn die Wüstenrot-Stiftung saniert. Jetzt kann man ihn im Rahmen der Bonn-Info-Tours besichtigen.

Ein paar Fotos zur Vorfreude findet man hier bei Google: Link

Freitag, 5. November 2010

Wohin mit dem CO2?

Verbrennt man Kohle mit reinem Sauerstoff, entsteht nur CO2. Das ist die wirtschaftliche Voraussetzung für das Abfangen des CO2 aus dem Kraftwerksbetrieb. Verbrennt man Kohl an Luft, entstehen zusätzlich andere Gase, z.B. Stickoxid, die aufwendig vom CO2 abgeschieden werden müssen.

Abfangen und Speichern, bekannt unter dem Kürzel CCS, (Carbon Dioxide Capture and Storage), ist eine Möglichkeit, Kraftwerks-CO2 aus der Atmosphäre fern zuhalten. Norwegen speichert schon lange das CO2, das bei der Förderung von Erdgas entsteht unter der Nordsee. Andere skandinavische Länder wollen dort bald ebenfalls CO2-Speicher errichten.

Norden und Osten von Deutschland eignen sich angeblich auch für eine unterirdische CO2-Speicherung. Im brandenburgischen Ketzin (bei Potsdam) fährt Vattenfall seit 2008 zusammen mit dem Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) einen Pilotversuch, dort wird CO2 unter Druck verflüssigt und eingespeichert. Vattenfall nennt das Projekt CO2-Sink, was suggeriert, man habe eine CO2-Senke entwickelt: Link1, Link2. Über einem Zeitraum von drei Jahren sollen hier rund 60.000 Tonnen CO2 in sandige Schichten eingespeichert werden, in einer Tiefe zwischen 600 und 800 Metern. Projektpartner sind weitere Energieversorger wie Statoil, Shell, RWE, Eon und Ausrüster wie Siemens und Schlumberger.

Man kann CO2 auch in Metallhydrate einlagern Daraus entsteht CO2-Hydrat (Eis) und es wird Methan frei. Diese Lösung käme lögischerweise nur in Dauerfrostregionen in Frage, in die man das CO2 hinpumpen oder verschiffen müsste. Methan ist aber auch ein Brennstoff, der besonders viel CO2 freisetzt.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, CO2 in ausgebeuteten Öllagerstätten zu pumpen.

CO2 ist auch ein Grundstoff für den Kunststoff PPC. PPC ist transparent und zäh. Daraus lassen sich Platten und Folien, Joghurtbecher, Faserwerkstoffe u.a. herstellen. Kunststoff kann aber nicht die einzige Verwertung von CO2 sein, denn soviel Kunststoff wie die Kraftwerke produzieren würden, wird nicht annähernd gebraucht. Einen solchen Stoff, der nur ganz langsam verrottet, müsste man auch recyclen, woraus zusätzliche Konkurrenz zum Kraftwerks-CO2 entstünde.

Bleiben die Meeresalgen. Sie wandeln gegenwärtig soviel CO2 in O2 um, wie der Baumbestand aller Landmassen. Sie brauchen Eisensulfat als Dünger, das z.B. bei Vulkanausbrüchen auf die Meere nieder rieselt. Wenn man aber anfängt, die Meere zu düngen, greift man wieder in ein Ökosystem ein, dass man noch nicht annähernd verstanden hat.

Wie man es dreht und wendet: Wir werden uns kein gutes Gewissen verschaffen können, in dem wir CO2 erstmal einspeichern und dann mal sehen. Wenn wir es nicht für irgendetwas sinnvolles gebrauchen können, setzen wir nur den umgekehrten Prozess in Gang, den wir derzeit bei der Ausbeutung der fossilen Brennstoffe haben. Dann sagen wir irgendwann nicht mehr nur: Irgendwann ist der letzte Öltropfen verbraucht, sondern auch: Irgendwann ist die letzte Lagerstätte voll..

Die Bezeichnung "Informationszentrum für klimafreundliche Kraftwerke" für das IZ-Klima (Link) ist deshalb sehr gewagt. Die EU-Kommission unterstützt die Forschungsaktivitäten dennoch: Von den Einnahmen aus dem Verkauf von 300 Mio CO2-Zertifikaten wandern 4 Mrd EUR zurück in die CCS-Forschung, damit auch zu den großen Kohlekraftwerksbetreibern. Die Argumentationskette der CCS-Lobby geht so:
1. Wir können den wachsenden Strombedarf nur durch Kohle und Gas decken.
2. Trotzdem müssen wir wegen des Klimawandels CO2-Emissionen senken.
3. Deshalb brauchen wir eine technische Lösung für die CO2-Reduzierung
4. Die beste, nein "alternativlose", Lösung ist CCS. Dies lässt sich auch für andere CO2-Quellen nutzen (z.B. Industrieproduktion)

Danach suggeriert man den Automatismus: Aus der Notwendigkeit der CO2-Senkung folgt automatisch CCS als Lösung. In der Pressearbeit werden Argumente pro CO2-Senkung und pro CCS gleich gesetzt. Aussagen des Ökoinstitutes und des WWF und solche von Projektmitgliedern werden so geschickt vermischt, dass der Eindruck entsteht, auch diese würden sich vorbehaltlos und vehement für CCS einsetzen.

Das IZ Klima steigt immer massiver in die politische Diskussion ein. Man will CCS nicht mehr begründen müssen, sondern die, die es in Frage stellen, sollen "moralisch-ethisch" argumentieren müssen (Link). Und der IZ-Klima Geschäftsführer Michael Donnermeyer, SPD, kandidiert nächstes Jahr für die Berliner Abgeordnetenhauswahl.. (Link)

Weitere Quelle: Bayerischer Rundfunk

Donnerstag, 4. November 2010

Geistessterben



Mulmige Gefühle lösen bei mir die Nachrichten aus den USA aus. Die Verzweiflung greift um sich. Die Wähler wissen nicht mehr, wen sie wählen sollen. Und die Regierung und auch die Notenbank wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Nur die Wallstreet weiß, was sie will, und sie bekommt es auch: Mehr, mehr, mehr.

Wessen Volkswirtschaft im wesentlichen "irreal" ist, wer sich dreißig Jahre lang der Deindustrialisierung hingegeben hat, wer seine Volkswirtschaft von Derivatehändlern und -erfindern steuern lässt, der kommt anscheinend nicht auf die Idee, es beim Wiederaufbau mal mit Substanz zu versuchen.

Die USA und England sind -beginnend mit Reagan und Thatcher- virtualisiert worden. Wer seine Industrie abbaut, weil er glaubt, woanders lasse sich eh billiger produzieren, und wer ernsthaft glaubte, man könne seinen materiellen Wohlstand nicht auf Wertschöpfung sondern auf Wetten auf Wertschöpfungen bauen, dem fehlt inzwischen das Vorstellungsvermögen und der gesunde Menschenverstand für das Funktionieren einer gesunden Wirtschaft. Der ist darauf angewiesen, es mit Finanztransaktionen zu versuchen. Schon wieder werden Milliarden Dollars gedruckt um Staatsschulden "zurückzukaufen".

Früher hätte ich noch an die innere Stärke Amerikas geglaubt und gesagt: Die ziehen sich selbst wieder hoch. Aber mein Eindruck ist, und unser Trip nach New York hat dies bestätigt: Sie haben keine Inspiration mehr. Sie sind ausgelaugt, hoffen von Tag zu Tag. Zu müde, ein S21 an der Wallstreet zu organisieren. Zu uninspiriert für eine neue technische Revolution. Es sieht aus wie das Ergebnis des "Geistessterbens", das Pierangelo Maset in den westlichen Ländern diagnostiziert hat: Keine Inhalte mehr, nur noch Formen: Tabellen, Charts, Folien. Kein Urteilsvermögen mehr, nur noch Ratings. Keine Bildung mehr, nur noch Qualifikation. Keine Wertschöpfung mehr, nur noch Wetten darauf. Das "Value" in Shareholder Value hat sich selbst ad absurdum geführt. Sie stellen gerade fest, dass man Geld nicht essen kann...

Freitag, 29. Oktober 2010

Der Stand der Dinge: Status Quo im Tempodrom, Kreuzberg

"Ah, jetzt verstehe ich es: Ich lebe!"
Frank Cross in: Die Geister, die ich rief

Sylvester läuft auf 3sat ja immer das Dauerprogramm von Rock- und Popkonzerten. Spontan begeisterten mich 2009 die Altrocker von Status Quo. Eine Band, die ich immer hartnäckig ignoriert hatte, weil ich ihren Boogierock -also jedenfalls in den Radioedits- immer irgendwie trivial fand. Ich stand immer auf Alternativrock, den ich im Rückblick inzwischen nur noch für eine depressive Form, der Angst vor dem Atomkrieg geschuldet, des ursprünglich lebensfrohen Rock'n'Roll halte. Ich dachte damals: Wer keine tiefergehende Botschaft hat, der ist trivial.

Oh, welch Frevel. Als wir Status Quo also auf 3sat sahen, lief da ein Laufband von einer bevorstehenden Deutschlandtour. Aus der Laune heraus bestellte ich online sofort Tickets für ihren Auftritt im Kreuzberger Tempodrom am 26. Oktober.

Am Dienstag war es soweit! Doch vor den Genuss haben die Götter den Schweiß gesetzt. In Berlin den Angstschweiß, ob man es mit dem ÖPNV rechtzeitig zum Anhalter Bahnhof schaffen wird. Weder S-Bahn noch BVG waren also jenem Abend in der Lage, die Rockpilger zum Ort ihres Begehrs zu bringen. Wie könnte es auch anders sein...

Gut, irgendwann kamen wir an. Das Tempodrom gilt unter Berliner Politikern als Mahnmal für gut gemeinte aber schlecht gemanagte, vor allem schlecht finanzierte Kulturprojekte. Es hat die Form eines Zirkuszeltes, und innen ist es einfach genial gestaltet: Man checkt so schnell ein wie früher am Flughafen Tempelhof. Es gibt eine breite Gardrobe, es gibt Getränkerbars im Außenring und im Innenraum. Alles geht irgendwie schnell. Als wir unsere Jacken abgegeben und uns ein Bier genehmigt haben, öffnen wir die Tür zum Innenraum. Da strömen uns bayerische Zeilen und Melodien entgegen, es erwarten uns auf der Bühne ausgerechnet die Altmeister aus München, die ich für ihren Song "Sommer in der Stadt" so ins Herz geschlossen habe: Die Spider Murphy Gang. Ich sehe die zum ersten mal live und es hat etwas Surreales, dass fast 1.000 Kehlen den Song mitgröhlen, der heute als Soundtrack für diverse Onlinepartnerbörsen durchgehen könnte: "Wo, wo bist Du-huu?". Is ja nett, wie der Leadsänger Günter sich ins Zeug legt. Und das Publikum ist soo entspannt. Partykellerstimmung. Nicht übermäßig laut, auch fällt es dem Drummer schwer, den Takt zu halten. Aber alle mögen Spider Murphy..

Dann ist die Vorgruppe vorbei und es fließt wieder sechziger und siebziger Jahremucke aus den Boxen. Hier gibts dann einen zweiten Höhepunkt: Einer der Rowdies, die die Status - Bühne präparieren, schiebt tatsächlich einen Staubsauger über das Podest. Und der DJ nutzt die Gelegenheit, Freddie Mercurys Staubsaugerhymne "I want to break free" aufzulegen. Das Publikum gröhlt, der Staubsauger genießt seine aufwallende Popularität. Dann plötzlich -und ich liebe diesen Moment der Vorfreude, der seinen Ursprung in frühkindlichen Heiligabendbescherungen haben muss- geht das Zirkuskuppellicht aus.

Und die lila Lightshow, die an die Grafiken der ersten iTunesversion erinnert, geht los und die Intromusik schwillt an. Dann kommen die Chefs auf die Bühne. Aus dem Synthysound heben sich die ersten Lebenszeichen der E-Gitarren ab. Sweet Caroline dreht ihre Aufwärmrunde. Dann plötzlich und entschlossen fällt das Startsignal und die Gitarren legen los. Die Chefs des Boogierock. Routiniert lässig, hart, laut und perfekt abgestimmt startet die Show und nach wenigen Sekunden ist klar, dass Rock eine Domäne der Altrocker ist. Dass es ihr Revier ist, in dem alle nachfolgenden Alternative-, Depri und Gott weiß welche Abwandlungen immer nur geduldete Gäste waren. Das hier, das ist schnell klar, ist das Werk geniöser Miterfinder des Rock. Mich packt es. Alle anderen auch, aber mit dem Unterschied, dass die es schon immer wussten, und ich ein bisschen spät dran bin, mit meiner Erkenntnis, dass diese Musik, dass der Ursprung dieser Musik, nicht die Klage sondern die Freude ist. Die Freude darüber, sich im klaren zu sein und daraus die Entspannung im Hier und Jetzt abzuleiten. Was ich hier in bemühten Worten umbeschreibe vollzieht sich in der Wirklichkeit über Saiten, Verstärker, Boxen direkt in Herz und Hüften der hier Anwesenden. Der Zirkus hat abgehoben und fliegt. Um uns herum Mittvierziger, Fünfziger und direkt neben uns saugt ein verwitterter Typ im Trenchcoat die Atmosphäre auf, ein Bahnvorstand oder so. Klar ist: Die Chefs rocken das Haus. Wenn diese Floskel je stimmte, dann heute...

Der Bandname stimmt noch immer. Keine Band hat mehr Songs in die UK-Charts gebracht und Frontmann Francis Rossi sagt irgendwann, "all of these songs are from SOME TIME ago". Und ich denke: Das ist unsere klassische Musik. Die Menge an Bands und Songs zwischen den Sechzigern und Achtzigern, das ist eine eigene musikalische Epoche, Geschichte. Und man muss es live erlebt haben, um ihre Wirkung und ihre Bedeutung verstanden zu haben. Status Quo wiederholen und variieren, wie eigentlich jeder bedeutende Künstler, ihre immer gleiches Thema, ihr Ding. Aber es ist so verdammt gut. Auf der Bühne entfaltet sich beides: Unmittelbare Wirkung der Musik und das Bewusstsein, damit etwas Neues in die Welt gesetzt zu haben. "Together we can rock and roll!"

Francis und Rhytmusgitarrist Rick Pafitt wechseln sich mit dem Gesang ab. Beide sind so alt wie meine Eltern, aber sie werden immer Rocker sein. Mit einer gewissen professionellen Distanz zu ihrem Werk, mag sein, aber um so würdevoller wirkt ihr Auftritt. Rock ist keine Frage des Alters und der Zeit. Auch im Publikum geht es nicht darum, alte Zeiten aufleben zu lassen, sondern seinen Platz zu behaupten. Das hier ist und wird sein.