Teil 1 - In der S-Bahn
Das nehme ich jedoch nur nebenbei wahr. Bis zu dem Moment, an dem der Alte einen markerschütternden Schrei ausstößt. Zweimal. Als wolle ein Steinzeitmensch ein wildes Tier beschwören. Wir Umsitzenden schrecken zusammen. Der Student nimmt seine Tasche und wechselt den Platz. Wir anderen tauschen vielsagende Blicke. Meine Geduld ist aufgebraucht. Noch einmal, denke ich, und ich greife ein.
Er tut es nochmal. Zweimal hintereinander. Sinnlich ist das eine neue Erfahrung. So ein Schrei bewirkt einen Adrenalinausstoß. Jetzt erhebe ich meine Stimme: "Geht's noch?!". Er schaut mich aus den Augenwinkeln an und dann wieder gerade aus. Hat er mich wahrgenommen? Habe ich etwas bewegt? Wir sind in der Anfahrt auf meinen Zielbahnhof. Ich muss irgendwo hin mit meinem Adrenalin. Als er wieder seinen Kopf wackelt, als würde er sich zu einem erneuten Schrei sammeln, stehe ich ruckartig auf, mit einer Bewegung auf ihn zu die einen Schatten auf ihn wirft. Er zuckt. Seine Reflexe funktionieren. Im Rausgehen überlege ich, ob meine Zubewegung auf die Gefahrenquelle auch ein Reflex war.
Teil 2 - Im ICE
In Braunschweig steige ich um in den ICE nach Berlin. Seit drei Wochen geht das schon so. die ICE-Brücke über die Elbe wurde vom Hochwasser unterspült, die Gleise liegen unter Wasser. Die Bahn leitet um über Braunschweig und Magdeburg. In Magdeburg steigt ein Typ in kurzen Hosen ein und kommt an den Vierer mir schräg gegenüber. An diesem sitzt ein Student (würde ich tippen). Tag, ist dann hier noch frei? - Ja. - Also, ich heiße Michael früher war alles besser, als man noch nicht über Uelzen nach Hamburg fahren musste wie heißt Du denn? - Thomas. - Ja die kriegen hier nüschte mehr auf die Reihe ich komme aus Zossen.
Er missbraucht die Höflichkeit des Studenten um ihn hemmungslos vollzuquatschen. Eine Art Sozialmissbrauch. Der Typ packt sein Kofferradio aus, stellt es auf den Tisch und dreht auf. Anschwellendes Radiorauschen, lange nicht mehr gehört sowas. Dann findet er einen Sender mit den Andrew Sisters. Zusammen mit dem Bild, das Magdeburg und sein Bahnbetriebswerk vor dem Fenster bietet, kann man sich jetzt wirklich ans Kriegsende versetzt fühlen. Der Zug ruckelt gemütlich vorbei an mechanischen Signalen. Seit dem Siegeszug des iPod ist Radiohören über Lautsprecherboxen ungewohnt. Ein Rentner steht auf und kommt an den Tisch: Ruhe! - Nein. - Ruhe!! - Ich habe keine Kopfhörer, geht nicht anders. - Radio aus!
Dann legt er nach: In der ersten Klasse sitzen die größten Arschlöcher, ich gehe in die zweite. Macht sich eine Dose Bier auf und rülpst zweimal vernehmlich. Wo kommst du noch mal her, fragt er den Studenten. - Aus Dortmund.
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