Samstag, 28. Juni 2025

"5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen" - ein eindrucksvolles Buch

Das Buch von Bronnie Ware (einer Sängerin, die sich vor ihrem Durchbruch mit Pflegearbeit über Wasser hielt), war fast 10 Jahre auf meiner Warteliste. Jetzt habe ich es endlich gelesen. Es hat mich bewegt, aber anders als ich erwartet hätte.

Ich erinnere mich noch, wie mich die Verinnerlichung der Erkenntnis, selbst auch sterblich zu sein ;-) zuerst schockierte und dann befreite. Es befreite mich vom Perfektionismus, von zu hohen Erwartungen an andere und an mich selbst. Und es ermutigte mich zu Expeditionen in Gefilde, die ich vorher nicht gewagt hätte.

Aber Bronnie Ware geht noch weiter. Dabei fängt ihr Buch eher langweilig und enttäuschend an. Sie erzählt aus ihrem eigenen Leben. Wie sie als Bankangestellte ausbrach, sich den Erwartungen ihrer Familie entzog, die Sprüche der anderen aushielt, ignorierte und sich nur noch darauf besann, Sängerin werden zu wollen. Auch hierzu bedurfte es nicht nur eines Übermaßes an Verdrusses über die Ist-Situation, sondern der eigenen Erfahrung und Bestätigung, das was man eigentlich will, auch wirklich zu können - und darauf zu vertrauen.

Sie beginnt ein Singer-Songwriter Leben, das aus ersten Auftritten auf Festivals besteht, auf denen sie Lieder von anderen singt, die ihr etwas bedeuten. Sie übernachtet im eigenen Auto und zeltet. Sie lernt "rock bottom" kennen. Irgendwann zeigt sie anderen zum ersten Mal eigene Texte. komponiert eigene Melodien usw. Präsentiert eigene Songs, die Anklang finden. Sie lernt einen Produzenten kennen usw. Sie arbeitet sich die Erfolgstreppe langsam hoch. Geschichten, wie man sie zuhauf auf Peter Urbans Podcast "Urban Pop" hören kann.

In der Zeit lebt sie als angestellte Pflegerin für Sterbende, und zwar die eher wohlhabenderen. Was bedeutet, dass sie nicht in Heimen arbeitet sondern Zimmer in den Häusern der Patienten bezieht und sich ihnen widmet. Die Patienten schauen auf interessante, gefüllte Leben zurück. Haben sich etwas aufgebaut, Haben im Beruf Einsatz gezeigt, an sich gearbeitet, geheiratet, Familien gegründet - und vor allem, immer lange gearbeitet. Und darüber die eigene Familie, eigene Freunde, eigene Freuden vernachlässigt. Darüber ging die eigene innere Stimme verschütt. Das eigene Beziehungsnetzwerk bestand irgendwann nur noch aus Geschäftspartnern. Und dann plötzlich der Ausstieg und Ruhestand.

Und die Erkenntnis, sich im eigenen Leben gar nicht gut auszukennen. Viel Anerkennung, aber eher aus der Distanz. Die innere Stimme kehrt zurück und fragt: Wer bist Du? Und wer weiß davon?

Und dann dämmert es: Ich habe viel zu einseitig gelebt. Aber warum? Die vordergründige Begründung: Ich wollte meine Familie absichern. Dann: für die Kinder etwas aufbauen, was ich ihnen später mitgeben kann. Damit sie den Rücken frei haben, zu studieren, was und wo sie wollen. Die hintergründige Motivation: Weil ich es "ihnen" (dem strengen, misstrauischen Vater, den Klassenkameraden, die nichs von mir wissen wollten, dem Jugendschwarm, der mich verschmähte, den Nachbarn usw.) zeigen wollte. Je mehr sie mich ignorierten, desto mehr habe ich reingehauen.

Das alles gepaart, und das ist eine wichtige Randbedingung für die Botschaft, die dieses Buch erzählt, mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten. Intelligenz, Tatkraft. Ressourcen, die wirksam werden wollen und sich nicht nach unten anpassen wollen.

Das alles bricht sich Bahn, man baut auf, sammelt an. Aber unbemerkt häufen sich auch Schulden an. Man entzieht sich, man schweigt, man vereinsamt. 

Und dann, während man das im Ruhestand allmählich erkennt, schwinden die eigenen Fähigkeiten, Versäumtes nachzuholen. Direkt nach dem Übergang rollt man noch und hat viel Energie, die "Bucket List" zu komplettieren. Man hat Geld, man kann sich auf dem Globus bewegen, man ist auf Ballhöhe. Aber dann schwinden plötzlich nach und nach die körperlichen Fähigkeiten. Und während einem unwohl darüber wird ist man unbewusst für das was noch geht. Wie gut es einem gestern doch noch ging, weiß man erst, wenn der nächste Schritt nach unten kommt. ("Ok, gestern war schon schlecht. Aber das hier ist ja noch schlechter...!")

Und die Patienten bekamen irgendwann die Diagnose über den nahenden Tod. Es gibt Leute, denen es tatsächlich erst jenseits der 80 klar wird, selbst auch sterblich zu sein. Aber die meisten lernen es schon vorher.

Und dann kommen die inneren Konflikte hoch. Dann wird plötzlich klar, was einem wirklich wichtig gewesen wäre und was man dermaßen versäumt hat, dass es nicht mehr nachzuholen ist. Und da sind fast alle gleich:

  • Ich hätte mich nicht so entziehen sollen. Meine Familie weiß gar nicht, wer ich bin. Ich fühle mich unverstanden. Meine Freunde sterben, meine Frau / Mann ist schon weg oder tot. Bald gibt es niemanden mehr, der weiß wer ich bin. Und denen, die noch da sind, habe ich die Gelegenheit verwehrt, mich kennen zu lernen.
  • Ich hätte meinen Erwartungen und Wünschen folgen sollen, nicht denen der anderen. Oder der Beweisführung gegenüber Leuten, denen ich gar nichts beweisen musste. (Eine unglaubliche Energie, wie ich aus eigenen Gesprächen mit Vorständen und Geschäftsführern weiß. Tag und Nacht gearbeitet um dem Vater zu beweisen, dass man es zum Vorstand bringen kann. Die Frau trennt sich, die Geliebte, das Luxusauto, den Kindern finanziert man später ein Apartment an dem Ort wo sie studieren wollen. Aber all das ersetzt kein erfülltes Leben in Beziehungen.)
  • Ich hätte mir mehr Freude und Glück gönnen sollen. Ich habe es verdient, glücklich zu sein. Nicht erst, wenn ich etwas erreicht habe. 
  • Ich hätte öfter im Hier und Jetzt leben sollen. Wir planen, wir hoffen, wir fürchten die große Sache. Aber der Eindruck, dass andere glücklicher sind und mehr Glück haben, kommt von der eigenen Unfähigkeit, das Schöne im Hier und Jetzt zu sehen. Es scheint einfacher, sich Ärger als Glück von der Seele zu schreiben. Aber was die Poeten sehen, sehen sie nur, weil sie sich selbst ins Hier und Jetzt rufen.
  • Sage allen, die dir wichtig sind, was sie dir bedeuten. Viele Schuld- und Versäumnisgefühle kommen daher, nie ausgesprochen zu haben, was man für jemanden empfindet. 
Den letzten Punkt erkannte ich, als ein mir nahestehender Onkel verstarb. Wir hatten uns oft und sehr offen ausgetauscht. Wir wussten voneinander, was und wie wir denken. Er hatte mir als Kind einen Elektrobaukasten geschenkt. Der hatte mich so interessiert, dass ich mit 10 Jahren quasi schon wusste, was ich beruflich einmal machen will. Ich habe ihm das auch gesagt. Man entlang des Weges viele Leute, ohne die man nicht seine Richtung eingeschlagen hätte. Ohne die man nicht auf den nächsten höheren Ast gesprungen wäre. Die Grundschullehrerin, der Onkel, der Doktorand am Lehrstuhl mit dem Kontakt zum späteren ersten Arbeitgeber, Chefs, die einem vertrauten, denen man lieferte, und die einen  hochstiften.

Aber auch die Frau, die man nur scheinbar zufällig kennen lernte, die man zum zweiten mal traf, der Urknall, die Expansion ins Universum, die Gravitation, aber auch emotionalen Kreditlinien die das Beraterleben einfordert und die man irgendwann zurückzahlt. Die alten Schulfreunde aus der Oberstufe. Irgendwann komplett getrennt, dann wiedergefunden ("Dein Haaransatz war auch schon mal niedriger.." )

Und dann die Familie, aus der man kommt. Wer schuldet wem was? Ich kenne bisher nur Geschichten von anderen über Erbstreitereien. Zwischen Geschwistern ist es am schlimmsten. Rechnungen, die bis ins Kinderzimmer zurückreichen. ("Mutter ist tot, aber du brauchst nicht zu kommen, ich regele das hier alles. So wie ich immer alles geregelt habe. Du bist ja zu weit weg." erzählte mal ein Freund vom Anruf seiner Schwester auf sein Handy. Er ließ den Einkaufswagen bei Edeka in der Uhlandstraße stehen, ging direkt zum Bahnhof Zoo und fuhr ins Ruhrgebiet.)

Bronnie Ware erzählt davon, wie sie stets schnell das Vertrauen ihrer Patienten errang, indem sie auch selbst aus ihrem Leben erzählte. Den einen oder anderen bringt sie dazu, sich mit dem eigenen Sohn auszusprechen. Damit dieser Frieden mit seinen Schuldgefühlen macht. So dass Frieden zu seinen Geschwistern entstehen kann. Ganz harte Kämpfe mit sich selbst und Überwindungen. Aber dann auch große Erlösung unter Tränen. Auf den letzten Metern über den eigenen Schatten gesprungen und so dankbar, diesen Konflikt losgeworden zu sein, bevor man geht. 


Ich machte Frieden mit meinen Eltern (in dem Sinne, dass ich keine Erwartungen mehr an sie richtete und auch keine alten Klagen mehr führte), indem ich erkannte, dass auch sie Menschen sind. Und auch schon waren, als wir Kinder waren. Auch sie hatten ihr Leben und wollten leben. Um uns Kinder drehte sich das meiste, aber wenn es sich einmal nicht um uns drehte, oder wir nicht bekamen was andere von ihren Eltern bekamen, stellten wir einen Schuldschein aus. Und die verglichen wir dann miteinander. Wenn das bis ans Ende so gehen würde, wäre auch hier der Kampf ums Erbe vorprogrammiert. Es geht dabei gar nicht darum, etwas zu bekommen. Sondern peinlichst darauf zu achten, nicht -vermeintlich schon wieder- benachteiligt zu werden. Im Freundeskreis meiner Mutter kursierte der Spruch: "Erbt ihr schon, oder sprecht ihr noch miteinander?" Der Schlüssel zur Lösung liegt hier nicht in einer Due Diligance der Hinterlassenschaft. Sondern darum, auszusprechen was ist. Tilgungsbescheide für alte Schuldscheine auszustellen.

Es ist übrigens einfacher, das alles anderen zu empfehlen, als es selbst zu tun ;-). Vieles habe ich schon in Angriff genommen oder gar erledigt. Aber alles noch nicht. Ich wünsche jedem, dass er es hinkriegt. Dieses Buch kann dabei helfen.

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