Als die Kandidatenbriefe für die Bundestagswahl 13 reinflatterten, hatte ich wenig Hoffnung. Wie schon in der FDP finde ich auch sicher in der SPD Berlin niemanden, der meine Interessen vertritt. Dazu bin ich zu normal: Arbeiterkind, Studium, Angestellter und zeitweise nebenberuflich Freiberufler. Aufstieg durch Bildung, wenn man so will. Wobei materieller Aufstieg nicht alles ist im Leben, sondern ich meine mit Bildung schon auch Weiterentwicklung ganz allgemein. Und nicht zuletzt: Verantwortung für das, was ich tue.
Ich blättere durch: Eine Transsexuelle, ein Verwaltungsmensch und .. eine Kollegin!
Freudige Überraschung: Eine Angestellte. Kind, türkischer Einwanderer nach Berlin. Aufstieg durch Bildung. DIE SPD-Story. Am nächsten Tag: Angemailed, am Hbf getroffen, Programm angehört. Klingt gut. Sie kandidiert für die Aufstellung für den Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg. Das ist der Ströbelewahlkreis. Wer ihn stürzen sollte, würde in die Hall of Fame im Willy-Brandt-Haus aufgenommen. Aber eigentlich traurig für einen traditionellen Arbeiterbezirk, dass man der SPD hier keine Chancen einräumt. Aber vielleicht meiner Kollegin Cansel?
Und noch eine gute Nachricht: Über die Aufstellung des Direktkandidaten will der neue Bezirksvorstand um Julia Schimeta die Mitglieder abstimmen lassen. Sehr gut! Ob das Votum bindend ist für die Delegierten, die danach noch einmal, und dann offiziell den Kandidaten wählen, darüber gibt es zwei Meinungen. Egal. Auf Twitter haben ich und andere Werbung für Cansel gemacht: #CanselFürXHain. Cansel's Motto: "Vorwärts (=Zukunft), und nicht vergessen.. (=Herkunft)".
Gestern war dann endlich der Tag der Abstimmung. Da meine bessere Hälfte und ich ein Wochenende in Potsdam planten, wollten wir nur zum Wahllokal fahren, wählen und dann ab an die Havel. Vom Halleschen Ufer ist es der klassische Weg nach Friedrichshain: Entlang des Landwehrkanals, über dem die U-Bahn fährt. Vorbei am Patentamt und am Schlesischen Tor. Dann irgendwann links über die Oderbaumbrücke auf die Warschauer Strassse und dann rechts in die Revaler Strasse. Hier soll das "Astra Kulturhaus" sein, in dem gewählt wird.
Es ist die Hipstergegend Berlins. Sagt man. Glauben die Leute hier von sich selber. Hier, im Lichtkegel des früheren Pixelparkglaswürfels hatten wir schon 2001 mit der IBM Unternehmensberatung Weihnachtsfeier. Hier sitzen die Musikverlage, für deren Behäbigkeit sich Dieter Gorny regelmäßig in die Bresche wirft. Hier traf ich mich mit Werner, als er damals ein Projekt in Berlin hatte. Und ich traf ich mich öfter mit den früheren Kollegen der VW-Tochter, die 2007 die Open Synergy gründeten, ein Unternehmen für Software im Auto.
Zurück zur SPD. Wo ist der Eingang zum "Kulturhaus Astra"? Alles was wir sehen ist eine Mauer, hinter der abbruchreife Ruinen stehen. "Aber hier muss es sein." Ab aufs Gelände. Hier ist nix ausgeschildert. Alter, wenn Du nicht weißt wo Du hin musst, dann biste wohl nicht von hier?". Wir fragen eine Polizeistreife, die zufällig eine Runde dreht. "Da lang und das letzte Haus links." - "Haus?"
Irgendwann finden wir einen Pappaufsteller mit SPD-Schriftzug. Im "Foyer" sitzt ein Hipster, der sich uns offenbar überlegen fühlt. Nur wenige Vorhänge später sind wir schon im Wahllokal. Es muss der Bühnenraum sein. Fensterlos, Funzellicht. Zwei Tische mit vier Genossen. Ein Wahllokal. Am Rande, genauer: auf Distanz: unsere Bezirksvorsitzende.
Wir spüren: Wir sind keine typischen SPDler. Nicht in Berlin. Und in Kreuzberg schon gar nicht.
Wir denken: Mal angenommen, wir hätten heute einen SPD-Sympathisanten mitgenommen. Um die Gelegenheit zu nutzen, ein paar Leute kennen zu lernen, ein paar Worte zu wechseln. Wir hätten uns geschämt. So runtergekommen ist diese Müllhalde. Nicht nur das: Es vermittelt sich hier ja auch, welchen Anspruch die Macher dieses Bezirksverbandes, aber eigentlich auch die gesamte Klientel hier an sich selber haben: Gar keinen!
Es wirkt wie offene Therapie. Es ist ok, wenn junge Leute so ticken. Aber selbst der Nachwuchs hat seine Probleme mit diesem "Kulturhaus", auf Google Maps finden sich Kommentare wie "Drecksloch", zu teuer für den schlechten Sound etc. Es wird richtig krass, wenn Erwachsene nicht den Absprung in ein selbstverantwortliches Leben schaffen und ihre Verantwortungsverweigerung kultivieren. Und das passier hier als Massenphänomen. "Recht auf.." ist das Lebensmotto. Es weist die gleichen Symptome auf, wie ein Kind, das von seinen Eltern immer verhätschelt worden ist. Es ist nicht dankbar, es wird anspruchsvoll und zänkisch.
Abends, beim Essen in Potsdam, lesen wir auf Twitter: "Quorum nicht erfüllt. Die Delegierten entscheiden." Alles umsonst, Der Bezirksvorstand hat es nicht geschafft, seine Mitglieder zu mobilisieren. Die Mitglieder haben von ihrem Wahlrecht nicht gebrauch gemacht. Schwach. Ganz schwach. In jeder Hinsicht.
Freundlicherweise wird hier nicht erwähnt, dass die Bewerberinnen z. B. in einem Wahlkreis antritt, indem sie gar nicht wohnen (wahrscheinlich wegen der "schlechten" Schulen in X-berg) oder sie auch sonst keinerlei ehrenamtliche Erfahrungen als z. B. Abteilungsvorsitzende haben. Wahrscheinlich zu anstrengend die "Ochsentour" und in Berlin ist ja üblich, dass wissenschaftliche Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten glauben, sie wären damit automatisch auch Politiker. Wenn Mann/Frau also überhaupt keine eigene Basis in der Abteilung hat, wer soll bitte zu so einer Mitglieder!entscheidungl kommen? Wer soll eigentlich noch Wahlkampf machen, also die Ochsentour vom Flyer verteilen bis zum Infostand freiwillig machen, die die Kandidatin bisher vermieden hat?
AntwortenLöschenUnd die alles entscheidende Frage: Wie will man Wähler mobilisieren überhaupt die SPD zu wählen, wenn die Mitglieder sich verweigern? Nach 27 Jahren Mitglied bin ich entsetzt, wie in dieser Zeit die Partei nur noch von Karrieristen als Sprungbrett gesehen wird. Ich wende mich ab und schäme mich!