Mittwoch, 13. Juni 2012

Götz Aly erklärt das Linke im Rechten

Wo die Analyse der Beobachtung nicht weiterhilft, da lohnt es sich, den Begriffen auf den Grund zu gehen. Wolf Lotter ist so einer, der das regelmäßig in der brand eins tut.

Ein anderer ist Götz Aly. Er hat dem Schweizer Monat ein -wie ich finde- sensationelles Interview gegeben (Link zu Einigkeit und Recht und Freiheit). Anlass war die Verleihung des Ludwig-Börne-Preises für den Mut, "unbliebsame Meinungen" zu veröffentlichen.

Aly geht der Frage nach dem Begriff des Nationalsozialismus nach: Wo war das Soziale in der Ideologie der Nazis? Und wie nationalisierten sie den Sozialismus? Eine Frage, die zuletzt auch Erika Steinbach aufgeworfen hatte, als sie auf Twitter darauf hinwies, die NSDAP sei eine "Arbeiterpartei", also links, gewesen. Kann das sein?

Diese Frage wird schon allein dadurch verdrängt, dass wir stets von Nazis und Neonazis sprechen, anstatt von Nationalsozialisten. Wir glauben, diese Ideologie von uns zu weisen indem wir das Alleinstellungsmerkmal, das wir ihr zuweisen, als Erklärung missbrauchen. Und damit vermeiden wir  Analyse und Verständnis.

Aly sagt: Wir haben den Begriffen der französischen Revolution beim Import in die deutsche Sprache neue Bedeutungen zugewiesen: Unter Freiheit verstanden wir nicht die Freiheit des Individuums, das von der Unterdrückung der eigenen Herrscher zu befreien wäre, um sein Leben zu verwirklichen, sondern die Freiheit von der Bedrohung durch andere Länder, Nationen, Reiche. Man wollte nie wieder Besiegter sein, nie wieder besetzt durch andere. Und aus der Gleichheit vor dem Gesetz machten "die" Deutschen den Anspruch auf materielle Gleichheit, woraus später der Sozialstaat erwuchs. Bismarck fing damit an, Hitler baute ihn aus. Der Sozialstaat ist eine Erfindung nicht der Sozialdemokraten sondern der Rechten.

Heute noch hoch angesehene Bürgerliche wie Friedrich Naumann, nach dem die FDP immerhin ihre Stiftung benannt hat, rührten daraus einen national-sozialen "Katechismus" an. Sie beobachteten, dass die Aussicht auf ein selbstverantwortetes Leben in Freiheit den deutschen  Untertanen eher Angst machte. Warum das bis heute so ist, ergründet Aly leider nicht allzu tief. Liegt es am Bildungsniveau, an Beobachtungen, wie man hierzulande in Wahrheit weiterkommt?

Aly führt als Erklärung "Neid" an. Eine Haltung, die eigene Unzulänglichkeiten oder Trägheit in Verschwörungstheorien ummünzt: "Das ist doch bloß eine behauptete Freiheit, in Wahrheit läuft doch alles über Seilschaften und Intrigen."

Aly sagt: Hinter "Neid" steckt die Erkenntnis, mangels eigener Mittel nicht mehr erreichen zu können, dies aber nicht mit eigenen Schwächen sondern mit Begünstigungen der anderen zu erklären. Wenn die Politik die materielle Gleichheit zur Räson erklärt, fällt es leichter, jeden Erfolgreicheren, jeden Aufsteiger, jeden, der höhere Ansprüche stellt, zu denunzieren. Der Denunzierte ist dann nicht tüchtiger, besser, intelligenter sondern MUSS gegen die Regeln verstoßen haben, die uns ja alle gleich machen. Und vom Neid zur Verschwörungstheorie ist es nicht weit.

Hier deckt sich manches mit eigenen Erfahrungen aus dem Ruhrgebiet. Natürlich fängt Neid schon in der Schule an. Unangenehm, das auszusprechen, aber auf meinem Gymnasium waren etliche, die da nicht hingehörten. Führte die frühere Undurchlässigkeit der Gesellschaft dazu, dass auch der dümmste Unternehmer-, Beamten- oder Arztsohn aufs Gymnasium ging und später studierte, lief im sozialliberalen Deutschland das gegenteilige Programm: Herkunft war nun kein Filter mehr, aber die Eignung auch nicht unbedingt. Noch schlechter, wenn die Ungeeigneten in der Mehrheit sind. Dann werden Leistung, Interesse und Intelligenz diskriminiert und denunziert. Intelligenz zu diskriminieren ist in Deutschland immer Mode und Modus gewesen.

Der Neid im Ruhrpott hat noch eine weitere Variante: Schlechte Erfahrungen als Empfehlungen weiterreichen, damit man nicht der einzige Dumme bleibt.

Vergegenwärtigt man sich mit Alys Hilfe die Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus in Deutschland, liegt ein Vergleich mit der aktuellen Krise Europas nah. Wir -auch ich- zeigen nicht nur mit dem Finger auf "die" Banker und Politiker und laden dort die Verantwortung für die Misere ab, ja unterstellen zusätzlich, noch einen Gewinn aus der Krise zu ziehen.

In Deutschland kommt noch etwas hinzu: Vom Angestellten an abwärts schauen wir irritiert, verärgert und beleidigt auf, weil wir nicht nur zehn Jahre lang Stagnation oder gar Schwund unseres Wohlstandes hingenommen haben: Durch Reallohnsenkungen bzw. Inflation. Jetzt wirft "man" uns das auch noch vor. Ja, man unterstellt uns, wir hätten einen Plan verfolgt, mittels des Euros und Lohnstagnation unsere Exporte auszubauen und Arbeitsplätze zu sichern - alles auf Kosten der anderen Europäer. Befeuert wird das durch die Gebetsmühle von Zentralbankern, Managern (nicht Unternehmern) und Politikern, Deutschland würde unterm Strich vom EURO profitieren.

Aha, schreiben die europäischen BILD Zeitungen. Wie bitte? fragen die deutschen Angestellten und Arbeiter. Profitiert haben doch nur "die da oben". Wir hier in der Mitte und unten haben allenfalls an materieller Sicherheit gewonnen. Zu erkennen an der Umwandlung von Leiharbeit und befristeten Verträgen in Festanstellungen. Und seht doch: Sie haben den "Fachkräftemangel" erfunden und die Einkommensgrenzen für Einwanderer gesenkt. Doch nur, um uns weiter klein zu halten.

Es wäre Aufgabe der SPD ihrer Klientel die Zusammenhänge zu erklären, ihre Interessen zu formulieren und Politikziele herauszuarbeiten, um sich gegenüber der Regierung zu positionieren. Nichts von dem geschieht. Die SPD Spitze ist als Opposition verstummt und bemüht sich darum, bei der Krise mitreden zu dürfen, ernst genommen zu werden. Sie gibt sich staatsmännisch und die Kandidaten Steinmeier und -brück liefern sich ein stilles Wettrennen, wer am lautesten Schweigen kann.

Die Sozialdemokraten enttäuschen wieder einmal durch Herumlavieren. Sigmar Gabriel fasste sein Krisenverständnis auf Twitter so zusammen, dass man über eine Entscheidung zum ESM gar nicht tief nachdenken müsse, weil die Alternative noch schlimmer sei. Er hat also das Prinzip "Alternativlosigkeit" nun auch verinnerlicht.

Somit wird klar, dass wir in Europa nicht nur in eine böse Richtung steuern. Die Normalbürger werden auch noch sich selbst überlassen. Man informiert sie nicht ("tun wir doch!" nachmittags um halb vier, wenn die Parteifunktionäre Feierabend haben) , man beteiligt sie nicht ("zu kompliziert) und jagt sie ins Bockshorn ("Krieg und Frieden / scheitert Europa").

Die Druckerpressen (für die Banknoten, nicht etwa aufklärerische Zeitungen) rotieren, die Börsen rauschen, die Banken fordern und bekommen.

Schäuble sagte am Wochenende zu Spanien: Ziel sei es, "die Märkte zu beruhigen", man nutze dazu den Samstag kurz vor dem Fussballspiel, weil die Börsen da geschlossen haben. Und die Leute Europameisterschaft gucken. Da geht es ja ums Ganze.

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