Kinder von Eltern gehen später selbst unterschiedlich mit dem Gelernten um: Früher dominierte die Haltung: Es war hart, aber es hat mir mehr genutzt als geschadet. Beispiele: Wehrdienst, Ausbildung, Wanderjahre.
Im Laufe der Zeit wurde das immer weicher: Erinnerungen an Kriege, auch kalte Kriege, verblassten. Das Leben erschien als Party, auf der man seine best mögliche Ausdrucksform finden sollte. Der einsame, angehimmelte Star war das Vorbild. Diese Vorbilder gelangten aber immer noch durch außergewöhnliche Fähigkeiten und Leistungen in ihren Status. Insofern waren sie immer noch Aushängeschilder einer Leistungsgesellschaft.
Aber irgendwann ging es bergab. Irgendwann verloren Kinder und Jugendliche das Streben nach Leistung. Trotzdem gaben sie nicht das Verlangen nach Anerkennung auf. In Betrieben äußerte sich das so, dass Berufsanfänger immer weniger konnten, aber immer häufiger nach Feedback fragten. Anfangs noch aus ehrlicher Unsicherheit und dem Wunsch, sich selbst zu verbessern. Später fragten sie weniger nach Feedback, als nach Alibis und Freisprüchen. Sie sahen die Welt der Institutionen nicht als Ergebnis von eigenen Beiträgen, sondern als gegeben und nur dazu da, sie am Monatsende mit Geld zu versorgen und zwischen den Monatsenden mit Lobpreisungen.
Die Schulen und Hochschulen, die sie zuvor besucht hatten, hatten derweil ihre Ansprüche an sich selbst und ihre Absolventen abgesenkt. Dies auf Geheiß der Politik, die das "Bologna-Prozess" nannte. Was so ähnlich klingt wie "Spaghetti Bolognese". Die EU wollte die "wettbewerbsfähigste Region der Welt" werden und hielt die Nivellierung der Ausbildung auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner für einen geeigneten Weg dorthin. Sie maß ihre Erfolge an der Zunahme der Durchschnittsnoten von Abituren und Diplomen.
Dann kam die sog. sozialen Netzwerke im Internet. Diese erzogen die ohnehin verwöhnten Teenager zu eitlen, konformistischen, boulevardesken Prinzessinnen und Prinzen. Fortan orientierte sich jeder nur noch an der Aussicht auf möglichst viele "Likes". Gepostet wurde nicht mehr, was die hellsten Köpfe im eigenen "Freundeskreis" anregen könnte, sondern was die Mehrheit, also der Durchschnitt für gut halten könnte. Dies in der irrigen Annahme, dass durchschnittlich Begabte ein Interesse daran haben, einen von ihnen auszuzeichnen und davon ziehen zu lassen. Freundschaften und Beziehungen wurden brüchiger, kurzlebiger, nur noch andauernd solange sie den Zweck einer öffentlichen Selbstbestätigung erfüllten.
Als dies schwieriger und aufwendiger wurde, bot ihnen die Politik einen billigeren Ersatz an: Moral. Politiker begannen vorzuleben, im politischen Raum nicht mehr mit Argumenten, mit Ratio, Mehrheiten zu überzeugen, sondern mit moralischer Überlegenheit, genannt "Werte" oder "Idee".
Und wer seine Macht auf Moral gründet, braucht ein Feindbild: die anders Denkenden. Das war zu Zeiten der Inquisition schon so, und zu Zeiten der großen Ideologien auch.
Moral bietet gegenüber dem Streben nach dem überzeugendsten Argument und dem Pulsfühlen bei der Mehrheit unschlagbare Vorzüge für minderbegabte Macht- und Statusstrebende:
1. Keine überhöhten Anforderungen an die eigene Intelligenz.
2. Zuverlässige Absicherung durch höhere Macht.
3. Die Orientierung an den eigenen Instinkten Neid, Verrat und Eitelkeit
Ausgrenzung wird so zur überlegenen Rhetorik im Diskurs, wie ich hier gerade gelernt habe. Denn Ausgrenzung ist ja nicht Zensur. Du darfst Deine abweichende Meinung schon kund tun, musst halt aber mit Ausgrenzung (Entlassung etc.) rechnen. Das sind aus Sicht der neuen Inquisition defensive Ausdrucksarten im neuen Diskurs. Denn Abweichung ist "widerwärtig", um nicht zu sagen "unsagbar":
It is a form of counterspeech and consequences from that counterspeech. On top of that it is an attempt to encourage bodies that host, promote, and elevate speech to think carefully about which speech deserves it.Diese Verhöhnung der Meinungsfreiheit ging an die Unterzeichner eines offenen Brief von 153 US-amerikanischen Prominenten ("A Letter on Justice and Open Debates", Link), veröffentlich in Harper's Magazine. Diese kritisierten den fortschreitenden Verlust von Meinungsfreiheit, der sich zuletzt in Entlassungen von Zeitungsredakteuren gezeigt habe, die abweichende Meinungen zugelassen hatten.
Die NYT fühlte sich angesprochen und reagierte sogleich: Aber nicht argumentativ, sondern -in Erfüllung dessen, was zu beweisen war- auf die Art von Moralisten: Sie durchsuchte, wer von den Unterzeichnern schon mal etwas mit "fragwürdigen" Gestalten zu tun gehabt habe, und wurde natürlich fündig. Dann fragte sie den Herausgeber von Herper's, ob er selbst auch zu den Inhalten des Briefes stehe. Dieser antwortete mit dem allseits bekannten Eiertanz, "in der Sache... nicht ganz falsch... aber der Zeitpunkt... nicht optimal" (Link). Und so weiter. Der größte Zensor der USA sei natürlich der amtierende Präsident...
Das entspricht ganz und gar den Vorzeigedenunzianten der Generation Praktikum in den sog. sozialen Medien: "Hallo Herr CEO, schon gelesen, was Ihr Vertriebsleiter da verzapft hat? Ist das ok für Sie?".
Ich meine, wenn die Medien, die Mama und Papa immer geschaut haben, so agieren, was kann daran falsch sein? Wenn Du die Moderatorin von 3sat Kulturzeit so reden hörst, dann hast Du doch die Bestätigung, dass moralische Überlegenheit Karriere macht, oder?
Und auch die Industrie wird durch solchen Nachwuchs mächtig voran gebracht: Wozu brauchen wir Ingenieure (alte weiße Männer), wenn wir doch vor allem Bachelors in Moral haben können, die eine Menge unvermittelterer Freundinnen haben, die sich gerne mit dem Ruf schmücken würden, die die alten weißen Männer hart erarbeitet haben?
Es gibt nur einen Ort, wo wir uns gegen diese Entwicklung wehren können: An der Börse. Go, tell it on the Mountain. And on the Hill."