Halloweenwoche. Herbststürme fegen das letzte gelbe Laub von den Bäumen. Der Weg am Landwehrkanal, auf dem entlang ich nach Feierabend zu Fuß Richtung U-Bahn laufen kann, ist leer. Keine Jogger und Hundebesitzer mehr. Der Regen fliegt waagerecht gegen meinen Schirm. Nach diesem trockenen Sommer genieße ich sogar den Regen. Den Geruch von Laub. Dass dass Wetter zur Jahreszeit passt.
Es war ein guter Freitag. Sprint Review Freitag. Und es war "das bis jetzt beste Review". Wir kriegen das Board gebootet und können jetzt die seit langem fertigen Komponenten darauf flashen und testen. Man freut sich wie ein Kind, wenn nach dem Boot unser Testbild auf dem Display erscheint. Wie damals, als wir im WDR Fernsehen Computerclub geguckt haben und danach unbedingt einen Akustikkoppler zum Laufen bringen wollten.
Eine Sache komplett zu beherrschen ist ein gutes Gefühl. Man fühlt sich fähig und weniger abhängig von anderen. Innere Sicherheit gibt Freiheit.
Ich biege ab in die Marchstraße, Richtung Ernst-Reuter-Platz. Und komme vorbei an einem Start-up Event. Sektglasempfang. Das kann kein "richtiger" Startup-Empfang sein. Es sieht mehr nach Verwaltung aus, die Startup spielt. Der ausgehängten Agenda entnehme ich, hier geht es um "Coaching- und Förderangebote des Senats für junge Gründer". Ach so. Das einen Tag nachdem der grüne Kreuzberger Baustadtrat Florian Schmidt mit Siegfriedstolz verkündete, Google aus Kreuzberg vertrieben zu haben.
Ich fühle den Abstand zu den Achtzigern. Ich bin auf dem Weg ein alter, weiser Mann zu werden. Helmut Kohl rief einem linken Störer mal zu: "Ja, sie bestreiten das. Sie bestreiten ja alles. Nur nicht ihren Lebensunterhalt." Heute spricht er mir damit aus der Seele. Diese Linken und Grünen kennen das Gefühl nicht, ein Board zum Booten zu bringen. Etwas aus eigener Kraft zum Laufen zu bringen. Etwas zu schaffen, was von Wert ist, weil andere bereit sind dafür Geld auszugeben.
Ich gehe weiter und überlege, was die Mitarbeiter der PTB-Außenstelle in ihrer schönen Villa auf ummauerten Grundstück hier wohl erleben? In dieser Ecke von Charlottenburg. Mit der TU Berlin, dem Heinrich-Hertz-Institut und anderen Instituten war mal eine Hochburg von Forschung und Entwicklung. Hier wurde Spitzentechnik geschaffen. Der Senat ließ sich vor zehn Jahren von einer Mc Kinsey Beraterin namens Kathrin Ruder erklären, dass Berlin mal Gründerstadt war und es wieder werden könnte. Die SPD hat seitdem etwas weniger verhindert, dass Leute hier Unternehmen gründen. Michael Müller, regierender Bürgermeister, ist sogar Sohn eines Druckereiunternehmers. Aber er hat nichts davon abbekommen. Aber in den Bezirken wo die Grünen regieren, wie Monika Herrmann in Kreuzberg, da laufen sie jedesmal Sturm gegen neue Unternehmen und neue Wohnungen.
Der Gehweg wird schmaler. Wir müssen uns die 2,50m mit rasenden Radfahrern teilen. Irre. Warum fahren die nicht auf der Straße?
Am TU-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz dann herrscht Wochenendstimmung. Wenige Studenten sind noch hier um diese Zeit, aber die Verwaltungsangestellten machen Feierabend. Ich stelle mir vor, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich im Herbs 1989 tatsächlich hier angefangen hätte zu studieren. Ich war zu bequem, um es gegen die Gegenredner durchzuziehen. Ich will über die heutigen Studenten nicht schärfer richten, als ich damals selbst bereit war, Entscheidungen zu treffen. Ich muss aber mal meine Kamera mitnehmen um vom obersten Stockwerk des Hochhauses ein paar Fotos aufzunehmen...
Tja, der Board-Bringup. So einfach und doch so kompliziert. Alle Treiber müssen passen, alles muss zu allem passen. Unser Architekt nennt das "hardware-agnostisch". Ja klar :-)
Meine Aufgabe ist es ja eher, die 300 Features und Enablers zusammen zu halten, damit wir die Entwicklungsarbeit der elf Teams sinnvoll planen und niemand wegen einer nicht erfüllten Abhängigkeit blockiert ist. Wenn die Product Owner etwas nicht verstehen, z. B. weil sie neu sind in der Eingebetteten Welt, kommen sie zu mir und fragen nach Details, nach den Geheimnissen der "Verticals". Guter Witz. Ich kann auch nur beschreiben, wozu das System anschließend in der Lage sein soll. Aber mit den Einzelheiten von Komponenten kenne ich mich nicht aus. In den Kommentaren von Jira und Confluence führe ich gefühlt endlose Debatten. Darüber, dass Entwicklungsarbeit nicht nur aus Programmierung besteht, sondern auch der Planung. Wenn Ihr etwas nicht wisst, dann besteht der erste Sprint darin, es zu eruieren und dann zu planen. Man muss von sich selbst abstrahieren können, die eigene Gruppe aus der Metaebene betrachten können. Und aus dem Nichts eine Planung und dann Implementierung schaffen. Ist das nicht das Wesen eines Startups?
Mich halten diese Fragen nach den Details von meiner eigentlich Arbeit ab. Von der Vorausplanung, der Anregung von Innovationsworkshops. Wozu wollen wir übermorgen in der Lage sein? Eine Plattform zu planen ist nicht dasselbe, wie sich neue Apps auszudenken, die von den Features einer Plattform Gebrauch macht. Ich verstehe inzwischen besser, worin die Leistung eines iOS besteht. Wie Du aus den Ankündigungen der Hardwarehersteller Potenziale für die eigene Plattform ableiten musst. Du stellst Dir die Endbenutzer vor. Szenarien, Use Cases. Probleme, mit denen die Anwender zu lernen gelernt haben, aber die morgen lösbar werden.
Und wenn wir einem Feature zustimmen, was müssen wir Appentwicklern bereitstellen, um sie zur bestmöglichen Endnutzererfahrung zu befähigen?
Diese wichtigen Ideen, Geistesblitze, Dialoge, innere Monologe, Diskussionen mit Architekten. Die entstehen immer nur zwischendurch. Zwischen zwei anderen eng geplanten Meetings. Manchmal entstehen sie auch zu Hause, unter der Dusche oder beim Rasieren.
Innerlich sträube ich mich dagegen, mit soziologischen Debatten und Befindlichkeiten von Entwicklern ("ich will was anderes machen!") befasst zu sein. Warum spüren sie nicht selbst die Sehnsucht nach der Weite der Meere und wissen, was zu tun ist?
Mir dauert das immer zu lange und ich fühle mich nur aufgehalten. Genau so wie von unserer immer noch nicht flutschenden IT-Infrastruktur. Ich rase innerlich, wenn während einer Videokonferenz unser WLAN zusammenbricht oder der Confluence Server für die Erfassung des Protokolls streikt. Diese tausende "Can you hear us?", die Dich völlig aus Deiner Konzentration bringen. Die den Gedankenfluss abreißen lassen und Du findest nie wieder zurück zu was zum Greifen nah war. "I think we are running out of time." sagt der Projektmanager dann und wieder ist eine Gelegenheit, unsere geballte Kompetenz für eine gute Idee zu nutzen, vergeben.
Ich habe es über die Bismarckstraße geschafft. Diese Baustelle hier mit den hässlichen Absperrungen nimmt auch kein Ende. Wann sieht Berlin endlich mal so aus, wie es sich alle wünschen - ohne Baustellen. Es ist dunkel geworden, wir schreiten zur U-Bahn. Die Treppe ist voller rutschigem Laub. Das ist der Herbst. Das Dröhnen der einfahrenden U2 wird lauter. Wir müssen sprinten. Aber wir schaffen es. Wochenende!